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Russlands Norden im Winter...
Mit dem Fahrrad durch Komi-Taiga und Nenzen-Tundra

Uchta - Izhma

Als ich in Uchta im Zentrum der Republik Komi aus dem Zug steige, zeigt mein Thermometer -25 Grad Celsius. Fein glitzernder Schnee fällt vom bewölkten Nachthimmel. Ich trage mein Gepäck an den Rand – der Schnee knirscht bizarr, klirrende Kaltluft füllt meine Lungen. Auf dem Bahnsteig schraube ich einsam mein Rad zusammen und starte kurz darauf zur geplanten Wintertour durch den russischen Norden. In Chosedachard, 470 Kilometer nordöstlich von mir, wird an diesem Morgen eine Temperatur von -56,4 Grad registriert – der zweitkälteste Wert, der je in Europa gemessen wurde. Wenig später erreicht auch mich die Rekordkälte und beschert mir drei Nächte mit unter -40 Grad. Eines Morgens messe ich sogar -50 Grad.
Zu diesem Zeitpunkt befinde ich mich in der Nähe des Dorfes Kerki und kampiere an einer gefrorenen Sumpffläche inmitten der Taiga. Mein Schlafsack ist stark vereist, auch Teile meiner Kleidung sind hart wie Brett. Der Benzinkocher funktioniert nur, weil ich die Brennstoffflasche über Nacht mit in den Schlafsack nahm. Am Abend zuvor versuchte ich noch, die Flasche unter dem Pullover auf Betriebstemperatur zu bekommen, musste mich dann aber mit gefrorener Wurst und ein paar Keksen begnügen... Beim Schnee tauen mache ich Experimente mit dem Wasser, werfe es in die Luft und schaue, ob es tatsächlich gefroren auf den Boden fällt. Die Tropfen sausen Kometen gleich mit dampfendem Schweif herab, doch sie gefrieren erst, nachdem sie aufschlagen. Über der Sumpfebene breitet sich vom Dampf des erhitzten Wassers ein dünner Nebelschleier aus. Winzige Eiskristalle glitzern unterhalb der Sonne auf. Während ich meinen Haferbrei löffle, laufe ich den Weg auf und ab. Bewegung ist bei dieser Kälte die einzig wahre Überlebensstrategie.
Als ich zur Weiterfahrt aufbreche, ist schon wieder der halbe Tag vorüber. Vier Stunden Tageslicht bleiben mir, um auf der vereisten Holperpiste weiter nach Norden zu radeln. Viel Platz zum manövrieren ist nicht, lediglich die von Schlaglochwellen durchsetzte Fahrrinne von etwa 30 cm Breite erlaubt ein Vorwärtskommen. Ein Schlenker nach links oder rechts und ich versacke sofort im Schnee, verliere das Gleichgewicht und muss meinen 85-Kilogramm-Karren zurück in die Spur hieven. Das Anfahren gestaltet sich schwierig, da der Leerlauf im Ritzel eingefroren ist – Kette und Pedalen laufen ständig mit. Ich fluche nicht nur einmal über missglückte Startversuche.
Obwohl es den ganzen Tag über zwischen -30 und -25 Grad kalt bleibt, komme ich ins Schwitzen. In den Winterstiefeln wird mir so warm, dass ich darin nur mit dünnen Socken und Plastiktüten fahre. Die Tüten als Schweißfänger um die Socken bewähren sich: die Stiefel vereisen nicht mehr wie auf früheren Touren und halten auch an den folgenden Abenden noch warm. Fantastisch wärmend sind auch die selbst genähten Lenker-Muften aus Fell. Ich fahre mit einfachen Fingerhandschuhen, längere Pausen mit fummeligen Handgriffen sind kein Problem mehr. An einer sonnigen Lichtung versuche ich kurz meine äußere Fleecejacke zu öffnen, um ein wenig abzudampfen. Doch der Kragen ist wie der Mundschutz zu einem starren Eisgebilde gefroren. Der Reißverschluss bricht mir ab... Ich flicke die Jacke mit Sicherheitsnadeln, beim Weiterfahren zieht es ein wenig.
Nachdem die Sonne untergegangen ist, leuchtet mir der zunehmende Mond den Weg. Unebenheiten sind jetzt kaum erkennbar, so dass ich mich ein paar Mal auf die Seite lege. Dennoch fahre ich weiter, ich will noch ein paar Kilometer schaffen, bevor ich den Tag beschließe. Gegen 18 Uhr halte ich an einer einladenden Waldlichtung und lese meine Tagesleistung ab: 27 Kilometer – mehr scheint nicht drin zu sein auf dieser grottigen Piste...
Bei -35 Grad grabe ich mich in stundenlanger Arbeit durch oberschenkeltiefen Schnee zu meinem auserkorenen Übernachtungsplatz. Die „Gangway“, wie ich sie nenne, hat wieder mal eine Länge von 20 Schritten. Durch diese trage ich mein Fahrrad und all mein Gepäck einzeln hindurch. Auf einer freigetretenen Fläche baue ich mir als erstes den Schlafplatz auf: als Unterlage eine Plane, zur Isolation ein Rentierfell und schließlich die Schlafsäcke – einen zum reinkrabbeln, den anderen zum zudecken. Da der bessere der beiden Schlafsäcke nur für -10°C ausgelegt ist, behalte ich beim Schlafen fast alle Sachen an. Der positive Nebeneffekt: die über Nacht vom Körper abgegebene Feuchtigkeit bleibt vorwiegend in der Kleidung, der Schlafsack vereist nur um den Kopfbereich herum. Das Aufbauen meines Einmannzeltes erspare ich mir, es würde mich nur einengen und mir zusätzliche Fummelarbeit bescheren. Außerdem brauche ich mich nachts nicht in die Schuhe zwängen, wenn ich mal pinkeln muss – ich stelle mich einfach an das Fußende.
In der Nacht fällt die Temperatur zum dritten Mal unter -40 Grad. Ich versuche ein Feuer zu entfachen, um auch mal abends Schnee tauen zu können, doch ich scheitere kläglich. Dünne Zweige, Papier, Wachs, Benzin und auch die Dauerflamme eines Wachsfackeltopfes bringen das Holz einfach nicht zum Brennen. Resignierend sitze ich im Kerzenschein und kaue wieder auf gefrorener Wurst und ein paar Keksen herum.
Am nächsten Morgen lege ich zwei Kochgänge ein, einen direkt nach dem Aufstehen, den anderen kurz vor dem Start. Mit Trockenfutter für zwischendurch würde ich sonst nur einen Bruchteil der nötigen Nahrung zu mir nehmen. Wichtig ist mir auch die ausreichende Flüssigkeitszufuhr. Da ich nur eine Thermoskanne mit einem Liter Fassungsvermögen dabei habe, komme ich nicht umhin, zweimal zu kochen.
Die folgenden Tage werden allmählich etwas wärmer. Die Temperatur klettert erstmals über -20 Grad und fällt auch nachts kaum noch unter diese. Der Kampf gegen die Kälte fordert nun nicht mehr soviel Zeit und Kraft. Dennoch schaffe ich auf der zerfurchten und zunehmend löchrigen Piste nur einmal mehr als 30 Kilometer. Eines Nachts fallen fünf Zentimeter Neuschnee. Fahren ist jetzt fast unmöglich. Die Fahrrinne ist kaum noch erkennbar und die neuen Autospuren decken sich nur selten mit dieser. Immer wieder eiere und schirge ich wie ein Irrer durch den aufgewühlten Randschnee, der wegen der geringen Frequentierung nicht genug festgefahren wird. Der ganze Tag ist pure Schinderei, die nichts mehr mit einer Radtour gemein hat...
In der Nacht darauf fallen weitere zehn Zentimeter Schnee. Der nun beginnende „Zimnik“, ein Pistenabschnitt, der nur im Winter benutzt wird, ist nun zum Radfahren komplett ungeeignet. Ich schiebe ein paar Meter und stelle fest, dass ich für die verbleibenden 70 bis 80 Kilometer bis Izhma wohl eine weitere Woche einplanen muss. Die Hände sind schon jetzt ganz taub vom vielen Gewürge. Ich fange an zu sinnieren: Warum tue ich mir das bloß an? Was habe ich davon, mich tagelang durch monotone Taiga zu schinden? Meine Zeit ist begrenzt und wäre sinnlos vergeudet, zumal ich mir vorgenommen habe, noch bis Narjan-Mar, der Hauptstadt des Autonomen Nenzen-Bezirks zu fahren. Mir wird klar: ich muss mich mitnehmen lassen.
Prompt hält ein Holzlaster, der mich bis zum letzten Waldarbeiterposten mitnehmen möchte. Ich willige ein. Es sind immerhin 10 Kilometer – mehr als die Hälfte einer unter diesen Umständen machbaren Tagesetappe. Die Männer sind allesamt Komi aus dem Dorf Tom. Sie laden mich in ihre kleine Schutzhütte ein und teilen mit mir Speis und Trank. Ein Ofen heizt ordentlich ein, nach einer Weile glühe ich wohl nicht weniger, als selbiger. Als die Männer zur Arbeit in den Wald gehen, bieten sie mir an, ich könne noch bleiben. Doch ich will weiter. Die besten Chancen auf eine weitere Mitfahrgelegenheit finde ich nur auf der Piste. Das Fahrrad und das viele Gepäck mögen hinderlich sein, einen passenden Platz zu finden, doch hier draußen ist es genau der Bonus, der zu einem schnellen Mitfahrangebot verhelfen kann.
Auf dieser Piste verkehren jedoch nur wenige kleine, in der Regel auch voll beladene Fahrzeuge. Ich warte vergeblich auf eine Mitnahme und pflüge mein Rad wieder mal den ganzen Tag durch aufgewühlte Schneemassen. Als es dunkel wird, kommt mir ein Kerl entgegen, den ich schon einmal am Vorabend traf. Er erzählt mir, dass einmal täglich ein Autobus zwischen Kojju und meinem Zielort Izhma verkehrt. Der nächste nach Izhma fährt morgens 7 Uhr in Kojju ab.
Diese Gelegenheit will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen, kampiere an einer gut einsehbaren Stelle und platziere mich am nächsten Morgen mit abgepacktem Rad an den Wegesrand und warte... Und tatsächlich: gegen 8 Uhr kommt eine „Taigatrommel“ über die Anhöhe gerast, die auch hält, und es steigt wieder der Kerl aus, den ich schon zweimal getroffen hatte – er ist der Fahrer! Das Fahrzeug ist schon belegt und der Kofferraum voll, doch man versucht sich zu arrangieren. Rad und Gepäck passen noch gerade so hinein, die Insassen rücken zusammen, nehmen ein Kind auf den Schoß und weiter geht die halsbrecherische Fahrt durch die buckelige Taiga.

Izhma – Novyj Bor

Als wir in Izhma ankommen, lasse ich mich an einer „Gostinitsa“ absetzen. Nach acht frostigen Tagen in der Taiga nutze ich die Gelegenheit, endlich das Eis aus Schlafsäcken und Kleidung zu bekommen. In einem komfortablen und gut beheizten Zweibettzimmer breite ich all meine Sachen zum Trocknen aus, dusche mich und wasche ein paar meiner Sachen. Neuer Proviant wird auch gekauft.
Am nächsten Tag geht es weiter nach Ust-Tsilma. Die Straße ist breit und asphaltiert, der vereiste Rand ist relativ eben. Ich komme trotz leichtem Gegenwind wunderbar voran – endlich kann ich richtig Rad fahren... Auf der Landzunge zwischen den Flüssen Izhma und Petschora durchquere ich am Abend etliche Komi-Dörfer. Überall sehe ich Pferdeschlitten, die mit Holz beladen aus den Wäldern zurückkehren. Manche queren die Straße und gleiten ein Stück neben mir her. Beim Anblick meines rollenden Stahlrosses fühlen sich die Pferde animiert und lassen sich vom Schlittenführer kaum noch zügeln. Sie liefern sich ein Wettrennen mit mir.
Es ist inzwischen Nacht und der Vollmond taucht allmählich aus den Wolken. Ein geradezu märchenhaftes Licht liegt über dem Land. Immer wieder halte ich an, um diese fantastische Stimmung auf Film zu bannen. Auch als es in der Izhma-Senke auf -30 Grad zugeht, stelle ich erneut mein Stativ auf, schraube die Kamera an und drücke für ein bis zwei Minuten meinen Finger in den Auslöser. Ich bin ziemlich durchgefroren, erst beim Hinauffahren einer Anhöhe wird mir wieder warm.
Tags darauf quere ich den riesigen Fluss Petschora. Auf dem Eis sind zwei breite Schneisen angelegt. Damit das Eis nicht in Schwingungen gerät und bricht, müssen sich die Fahrzeuge an Regeln halten, die durch einen kleinen Schilderwald am Ufer des Flusses zusammengefasst werden: maximal 20 km/h, nicht mehr als 15 Tonnen, mindestens 50 Meter Abstand – als Radfahrer muss ich mir keine Sorgen machen... Bei der Überfahrt des hier zwei Kilometer breiten Flusses pustet mir der Gegenwind in die Augen. Die Temperatur sackt von -22 auf -27 Grad ab. Es ist erstaunlich, was große Freiflächen auch tagsüber für eine abstrahlende Wirkung haben!
In der Taiga auf der hügeligen Nordseite der Petschora ist es wieder windstill und etwas milder. Ich fahre den ganzen Tag neben herrlich angezuckerten Nordlandfichten. Obwohl die Gegend entlang der großen Flüsse relativ dicht besiedelt ist, erreiche ich erst am Abend nach mehr als 60 Kilometern die erste Ortschaft. Wolken sind aufgezogen und ein böiger Wind hat sich eingestellt. Als ich im Dunkeln versuche ein Schild zu entziffern, hält ein Auto, dessen Fahrer, Sascha, mich kurzerhand zu sich einläd. Etwa drei Kilometer weiter beginnt sein Dorf Karpuschevka. Sein Haus ist das erste auf der linken Seite, sagt er. Ich nehme das Angebot dankend an, da ich schon viel zu lange nach einem passenden Übernachtungsplatz im Wald suche. Von der breiten Trasse zum Waldrand hätte ich überall eine elend lange „Gangway“ graben müssen.
Als ich in den Ort hineinrolle, erwartet mich Sascha bereits. Ich stelle mein Rad in den Holzschuppen und betrete die gemütlich eingerichtete Wohnung. Ein Kachelofen sorgt für unerträgliche Hitze. In der Küche sitzen seine Frau Alina und der elfjährige Sohn. Die Tochter ist gerade aus. Es gibt kein fließendes Wasser und zum Klosett muss man raus über den Hof. Doch alles andere in diesem Haus wirkt zeitgemäß: ich sehe einen Wasserkocher, einen Elektroherd, eine Mikrowelle, einen Fernseher, einen Computer... Man bemüht sich um mein Wohlergehen, gibt mir etwas zu Essen und schenkt mir Tee ein.
Die ganze Zeit wird geredet. Es bleibt kaum Zeit zum Luft holen. Ich erfahre, dass es im Sommer auch ausländische Touristen gibt, die sich mit dem Autobus von der Bahnstation Irael nach Ust-Tsilma bringen lassen, um von dort mit einem Schiff auf der Petschora nach Narjan-Mar und wieder zurück zu fahren. Im Winter kommen keine Touristen hierher, sagen sie. Ich sei der erste von dem sie wissen. Dann erklären sie mir, wie ich entlang der Petschora weiter nach Norden komme, dass es einen „Zimnik“ bis Novyj Bor gibt, eventuell auch bis Lezhdug, dem letzten Ort der Komi-Republik, und danach nur noch Schneemobilpisten. „Fünf Stunden bis Narjan-Mar“ sagt Alina – ein wichtiger Hinweis, der mich optimistisch stimmt. Falls es mit dem Rad nicht mehr weiter geht, besteht also die Möglichkeit, sich das letzte Stück mit Schneemobilen bringen zu lassen.
In Novyj Bor, sagen sie, gibt es auch viele Deutsche. Alina blättert im Telefonbuch und zählt mir ein paar Namen auf: Maier, Koch, Lenz... Ja, sage ich, das sind deutsche Namen. Ob sie auch deutsch sprechen? – Das wissen sie nicht. Sascha war nur einmal dort, mit dem Auto im Winter. Im Sommer sind die Dörfer entlang der nördlichen Petschora nur per Boot erreichbar und im Frühjahr, wenn das Eis bricht, einen Monat lang nur auf dem Luftwege oder gar nicht. Das ist das Schicksal der abgelegenen Dörfer des russischen Nordens. Mit Sascha trinke ich noch ein paar Vodka und haue mich endlich aufs Ohr. Die Tochter hat mir ihr Bett überlassen, sie liegt nebenan auf dem Sofa. Ich bin hundemüde, doch die Luft ist so heiß und trocken, dass ich kaum schlafen kann. Die ganze Nacht wälze ich mich ächzend hin und her.
Am nächsten Morgen weckt mich Sascha und bringt mir eine Plastiktüte. Darin sind weitere zerfetzte Plastiktüten. Sie kommen mir bekannt vor – es sind meine. Ich hatte damit den Proviant für unterwegs eingewickelt. Als wir zum Fahrrad gehen wird mir klar, was geschehen ist. Elstern hatten aus der vorderen Tasche alles Essbare herausgeangelt: Kekse, Halva, Brot, Käse, Wurst, die aus Deutschland mitgebrachte Hüttensalami und leider auch den guten Trockenfisch, jakutischen Weißlachs aus der Lena... Sie zerrten sogar die Tüte mit den kleinen Gastschnäpsen heraus – wohlgemerkt von ganz unten aus der geschlossenen Fahrradtasche!
Das Wetter hat umgeschlagen: trüber Himmel, kräftiger Südwind und milde -10 Grad. Die nächsten Tage gibt es eine regelrechte „Hitzewelle“ mit Tageswerten bis null Grad. Ich lege mich richtig ins Zeug und versuche die erholsamen Bedingungen mit ein paar ordentlichen Tagesetappen wettzumachen. Am ersten Tag schaffe ich auf der noch gut ausgebauten Trasse fast 80 Kilometer. Bei Chabaricha beginnt irgendwann der „Zimnik“ und das Fahren wird allmählich schwieriger. Der Weg folgt einer breiten Schneise durch den Wald und führt an den meisten Ortschaften vorbei. Ich fahre etwa 100 Kilometer, ehe ich das nächste Dorf erreiche: Okunevo.
Es gibt ein „Magazin“ mit einer kleinen Auswahl an Lebensmitteln. Ich kaufe mir zwei Liter Wasser, um am Abend mal keinen Schnee tauen zu müssen. Hinter der Siedlung rolle ich bei hereinbrechender Nacht in die Sümpfe der Petschora-Aue. Da der Mond nicht mehr scheint, leuchtet mir eine helle Kopflampe den Weg. In der Dunkelheit blitzen plötzlich ein paar Reflektoren auf. Ich treffe einen Mann, der an seinem Schneemobil pausiert. Er heißt Gottlieb Sterz, spricht aber kein deutsch. Er ist ganz irritiert, dass mitten in der Nacht einer mit dem Fahrrad in die Sümpfe fährt und dort im Schnee übernachten möchte. Das ist „absurd“, meint er, und versucht mich zu überreden, mit ihm zurück nach Okunevo zu fahren. Er möchte mich als Gast in seinem Haus – zwei Etagen hat es, wie er betont... Aus dem Dorf komme ich aber gerade her und ich habe mich bereits mehr als eine Stunde mühsam durch die Aue gekämpft. Absurd wäre es für mich, würde ich jetzt wieder umkehren... Das beruhigt den Mann nicht, er gibt mir Speck, „Prjaniki“, eine Flasche Wasser und den letzten Schluck Vodka mit auf den Weg – damit ich besser einschlafen könne, sagt er. Kurz bevor sich unsere Wege wieder trennen, legt er noch seine Fäustlinge dazu...
Gegen 20.30 Uhr erreiche ich die nächste Petschora-Querung. Im Dunkeln erkenne ich nur vage das andere Ufer. Ich kann nicht einschätzen, wie weit es bis zur anderen Seite ist und entschließe mich, die Nacht noch am Ostufer zu verbringen. Am nächsten Morgen will ich den Fluss überqueren und stelle fest, dass die Fahrspur vom Südwind der vergangenen Tage vollkommen verweht ist. Geschlagene zwei Stunden kämpfe ich mich durch aufgewühlten Tiefschnee über das Eis. Schneefall setzt ein und der Wind frischt auf. Für eine Weile stehe ich im sogenannten „Whiteout“. Die Vorstellung, in der schutzlosen Tundra permanent solchen Bedingungen ausgesetzt zu sein, behagt mir nicht besonders.
Auf der anderen Seite der Petschora ist das Fahren wieder fast unmöglich. Ich schlage ein Mitfahrangebot aus, in der Hoffnung, der Weg würde irgendwann wieder besser werden. Das wird er aber nicht und so krauche ich auf den verbleibenden 50 Kilometern bis Novyj Bor noch mal zwei Tage durch die Taiga. Die stille Natur fasziniert mich. Sie ist deutlich abwechslungsreicher, als entlang der ausgebauten Trassen. Ich folge dem Weg, ohne zu wissen, wo ich bin und wie weit es noch ist. Mein Radcomputer hat schon seit einigen Tagen den Geist aufgegeben und es gibt keinerlei Anhaltspunkte, die sich auf meiner russischen Generalstabskarte im Maßstab 1:500.000 verorten lassen. Mit Gewissheit stelle ich nur fest, dass mein Weg nicht mit dem auf der Karte verzeichneten ufernahen Pfad übereinstimmt.

Novyj Bor – Narjan-Mar

Als ich am zweiten Tag einen Schneemobilfahrer treffe, frage ich ihn, wie weit es noch bis Novyj Bor ist. Seine Antwort gibt mir Auftrieb: nur noch 7 Kilometer! Noch vor Sonnenuntergang erreiche ich den Ort. An der Administration holt man mich spontan zu einem Tee ins Haus. Ein Kirgise ist der Ortschef, so vermute ich jedenfalls, da er sich als „Kopf“ von Novyj Bor bezeichnet. Er preist mir das einfache Leben an: „Arbeit gibt es, gutes Quartier, schöne Natur und beste Möglichkeiten für Jagd und Fischfang“ – ich solle doch mal darüber nachdenken. Ich frage nach, was das für eine Arbeit ist, die es hier gibt – symbolisch Kuh melkende Hände sind mir dann Antwort genug...
Ich frage auch, wie ich einen gewissen Michail Petrenko finde. Dieser hatte mich vor zwei Tagen bei einer Begegnung an der Petschora-Querung eingeladen, sobald ich Novyj Bor erreiche. Der Kirgise ruft ihn an und kurze Zeit später steht er mit seinem Bruder vor der Tür. Sie freuen sich, mich wieder zu sehen. Wir gehen zur Wohnung von Michail und essen panierten Fisch – natürlich selbst gefischten aus der Petschora. Michail ist Jäger und holt sich das, was auf den Tisch kommt, meist selbst aus der Natur – alles hundert Prozent „naturalnyj“, wie er mir oft versichert. 2004 war er in Groznyj, hat seine Armeezeit im Tschetschenienkrieg verbracht. Er zeigt mir seinen Veteranenpass und sagt, es war keine gute Zeit.
Nach und nach treffen all seine Freunde ein. Man will mich kennen lernen. Immerhin sei ich der erste deutsche Tourist in ihrem Ort – das wäre „historisch“ und müsse mit ein paar Vodka gefeiert werden. Ich mache mich auch mit den Feuerwehr-Kameraden des Bruders bekannt. Vor den Löschwagen werden Fotos geschossen. Dann gehen wir zu Irma, einer alten Wolgadeutschen. Sie ist eine der letzten, die hier noch deutsch sprechen. Früher gab es noch mehr, erzählt sie, doch inzwischen sind viele fort gegangen. Nur die Namen blieben: „Koch“, „Kettler“, „Majer“, „Schtro“... Von den nachfolgenden Generationen spricht keiner mehr deutsch. Auch ihr Sohn und ihre Enkel beherrschen nur die russische Sprache.
Irma wurde in Saratov an der Wolga geboren. Während des Krieges verschleppte man sie in Arbeitslager nach Vorkuta und Sibirien. Anschließend wurde sie mit anderen Deutschen nach Novyj Bor umgesiedelt. Ob sie von hier weg, zurück in ihre angestammte Heimat möchte, frage ich – Nein, antwortet sie, was wolle sie da, auch nach Deutschland möchte sie nicht. Ihre Familie, ihr Zuhause ist jetzt hier und es geht ihnen doch nicht schlecht... Dieses Schicksal erinnert mich sehr an meine erste Begegnung mit Russlanddeutschen in der ostsibirischen Siedlung Mama, welche ebenfalls von der Außenwelt abgeschnitten zu einer neuen Heimat für viele Deutsche wurde.
Ganz in der Nähe von Novyj Bor, am Fluss Schapkina, erzählt man mir auch, gibt es einen „Tschum“. Eine Gruppe vom Nomadenvolk der Nenzen überwintert dort mit ihren Rentieren und lebt noch wie vor Jahrhunderten in ihren traditionell aus Tierhäuten gefertigten Zelten. Das Leben der Nenzen interessiert mich sehr, weshalb ich auch noch bis in die Tundra des Autonomen Nenzen-Bezirks fahren möchte. Doch auf einmal wird mir klar, dass ich in der winterlichen Tundra keine der Rentiernomaden antreffen werde, denn alljährlich wandern diese mit ihren Tieren in die Taiga der nördlichen Komi-Republik, um über den Winter genügend Nahrung und Schutz zu finden. Ein Besuch des „Tschums“ in der Nähe der alten Siedlung Schapkino wäre möglich. Michail sagt mir, in drei Tagen könnten wir mit einem Schneemobil dort hin fahren. Doch das lange Abwarten und zwangsweise zu Gast sein hält mich davon ab, einzuwilligen. Ich möchte weiter nach Narjan-Mar. Die Zeit ist knapp und ich will unbedingt noch die Tundra sehen – sei es drum, auch ohne Nenzen.
Da es hinter dem übernächsten Dorf keine Fahrwege mehr gibt, frage ich schon mal nach den Möglichkeiten, ein Schneemobil zu finden. Ein Freund von Michail bietet mir an, mich für 6000 Rubel (150 Euro) ans Ziel zu bringen. Das ist eine Menge Geld für mich, so dass ich es vorziehe, erst einmal bis ans Ende der Sackgasse zu fahren, um vor Ort nach einem günstigeren Angebot zu suchen.
Die Piste hinter Novyj Bor ist in einem üblen Zustand. Massen an Schnee haben sich angesammelt und kaum jemand ist darüber gefahren. Mit mir läuft ein Mann, der die 30 Kilometer bis zur nächsten Siedlung Charjaga zu Fuß gehen will. Irgendwann geht er vor, da ich ihm zu langsam bin. Auf den Freiflächen der Aue haben Schneewehen den Weg derart zugesetzt, dass ich kaum noch vorwärts komme. Alle zehn Meter muss ich inne halten und Luft holen. Wieder einmal frage ich mich, warum ich mir freiwillig so eine Schinderei antue. Als Radreisender ist man hier vollkommen verloren – Ski und Pulka wären jetzt das passende Fortbewegungsmittel.
Während ich mich Stück für Stück weiterschleppe, hoffe ich auf eine baldige Mitfahrgelegenheit. Doch auf diesem Streckenabschnitt fährt anscheinend niemand mehr. Erst am Nachmittag holt mich eine „Taigatrommel“ ein. Es ist ein Krankentransporter mit zwei Ärzten, die mich ohne Umschweife einladen. Ein paar Kilometer weiter treffen wir auf ein Raupenfahrzeug, welches mühsam den Weg frei räumt. Das wurde auch höchste Zeit! Da ich aber schon im Auto sitze, lasse ich mich noch bis Charjaga mitnehmen. Kurz vor dem Ort sammeln wir noch den Mann ein, der mit mir zusammen losgelaufen war – er hatte einen Vorsprung von etwa 14 Kilometern!
In Charjaga angekommen bringt er mich zu einem Kerl, dessen Namen man mir in Novyj Bor nannte. Ich frage ihn, ob er bereit wäre, mich mit einem Schneemobil nach Narjan-Mar zu bringen. Er schaut mich entgeistert an und schüttelt den Kopf – er hat kein Interesse. Warum auch, wurde mir klar, warum sollte jemand einfach so einen ganzen Tag opfern, um einen durchgeknallten Reisenden an sein Ziel zu bringen. Es gibt wichtigeres im Leben...
Ich fahre weiter nach Ermitsa, die Piste ist ja nun frisch geräumt. Nach Lezhdug, dem letzten Ort der Komi-Republik gibt es dann aber definitiv keine Fahrwege mehr. An einer Kreuzung in Ermitsa frage ich zufällig herumstehende Anwohner, welche der vielen Schneemobilpisten nach Lezhdug führt. Da es schon dämmert, will ich nur noch den Ort verlassen und am nächsten Tag, wenn ich für alle sichtbar bin, meine Chancen auf eine spontane Mitfahrgelegenheit ausloten.
Soweit soll es aber nicht kommen, da einer der befragten Anwohner, Vasili, zusammen mit mir aus dem Ort stiefelt und sieht, wie ich auf der beginnenden Schneemobilpiste gnadenlos versacke. Wir stehen gerade am letzten Haus des Dorfes. Vasili fragt die Bewohner nach einer Transportmöglichkeit. Es wird telefoniert und schließlich findet sich jemand, der bereit ist, mich für einen kleinen Obolus die 10 Kilometer nach Lezhdug zu bringen.
Während man mich in der Zwischenzeit ganz selbstverständlich beköstigt, fährt ein Mann mit prächtigen Kosaken-Schnauzer vor. An seinem „Buran“, dem klassisch russischen Schneemobil, hängt ein großer Holzkasten, der hier übliche Schlitten für Material- und Personentransport. Wir laden das Fahrrad und das ganze Gepäck ein und sausen los. Vasili sitzt hinten im Schlitten und ich beim Fahrer auf dem „Buran“. Mit einer bescheidenen Geschwindigkeit hüpft das lärmende Gefährt über die unebene Piste durch die Nacht. Nach einer halben Stunde haben wir Lezhdug erreicht und man setzt mich vor einem Haus ab, in dem ich schon als Gast gegen Bezahlung ausgehandelt wurde. Ich füge mich den Umständen, in der Hoffnung, hier die besten Chancen zu haben, jemanden für die Weiterfahrt zu gewinnen.
Meine zugeteilte Gastunterkunft entpuppt sich jedoch als heruntergekommene Behausung von seelisch zerrütteten und dem Alkohol ergebenen Leuten. Eine Komi-Frau und ihr halbrussischer Mann nehmen sich meiner an. Sie empfangen mich fast schon überschwänglich, nehmen mir die Sachen ab, um einige davon gleich zu waschen. Sie bieten mir zu Essen an, lassen mir aber kaum Gelegenheit, davon zu probieren, denn es wird ununterbrochen auf mich eingeredet. Sie sind sichtlich unzufrieden mit ihrer Situation, beklagen sich über die schlechten Zustände im Dorf und die mangelnde Unterstützung vom Staat. Sie zeigen mir notdürftig reparierte Stellen in Küche und Wohnzimmer, schimpfen über den Präsidenten Medvedev, er erzähle nur Lügen und betteln im gleichen Atemzug nach Vodka, den ich für sie im örtlichen Magazin kaufen soll. Immer wieder schauen der betrunkene Bruder und seine noch betrunkenere Ehefrau vorbei, die mir deutlich klar machen, dass es besser ist, wenn es heute Abend keinen weiteren Vodka gibt. Ich halte gegen und nehme mir vor, das Geld für die Übernachtung erst am nächsten Morgen zu übergeben. Irgendwie findet sich dann doch noch eine Flasche und der Abend endet mit einer in die Schüssel kotzenden Komi-Frau – es war bedrückend. Noch nie habe ich in Russland eine so offensichtliche Alkoholabhängigkeit erlebt – das halbe Dorf scheint betroffen zu sein...
Am nächsten Morgen stehe ich noch vor den anderen auf. Ich will so schnell wie möglich weg von hier und wenn ich die ganze Strecke bis Narjan-Mar zu Fuß gehen muss. Ich mache mir Gedanken, wie ich an einen Schlitten komme und ob sich dieser auch ohne weiteres ziehen lässt. Als der Mann aufsteht und zur Arbeit geht, verspricht er mir jedoch, er würde sich unter seinen Arbeitskollegen umhören, ob es jemanden gibt, der mich zum nächsten Dorf bringen würde. Also harre ich noch eine Weile aus und mache in der Zwischenzeit Bekanntschaft mit den anderen Dorfbewohnern, welche sich zusammen mit den Arbeitskollegen nach und nach im Haus meiner Gastgeber einfinden. Wie in Novyj Bor wollen mich alle kennen lernen und ein paar Vodka auf die deutsch-russische Freundschaft trinken.
Ein paar Leute, die noch bei Sinnen sind, führen mich derweil durch den Ort und bringen mich zu drei Nenzen, die hier leben. Es ist ein trauriges Bild: der Älteste von den Dreien ist bereits vollkommen betrunken und brummt nur noch vor sich hin. Er schafft es noch, sich die traditionelle Pelzjacke überzuziehen. An dieser hängt ein edel verziertes Messer. Ich will Fotos machen, doch meine Begeisterung für diese erste Nenzen-Begegnung hält sich deutlich in Grenzen.
Irgendwann macht mir einer der angeheiterten Arbeitskollegen das Angebot, mich noch heute bis Velikovisotschnoe, kurz „Viska“, zu bringen. Wie viel Geld er dafür möchte, frage ich – Nichts, erwidert er, das sei eine freundschaftliche Geste. Seine Frau hat jedoch für solch selbstlose Ambitionen nichts übrig und verlangt 40 Rubel für jeden Kilometer bis Viska. Da es insgesamt 40 Kilometer sind, wären dies am Ende 1600 Rubel (40 Euro). Ich bin einverstanden, zumal ich ohnehin etwas geben wollte.
Als der „Buran“ gegen 12 Uhr startbereit ist, befindet sich mein Fahrer schon im Delirium. Vasili, der mich schon von Ermitsa hierher begleitet hatte, springt spontan ein, sicher in der Hoffnung, dass auch für ihn etwas herausspringt. Bevor wir los fahren, soll ich noch einen Vodka kaufen – für unterwegs, wie er sagt. Da der Kerl bisher einen soliden Eindruck machte, denke ich mir nichts dabei und hole eine Flasche. Später wird mir klar, dass dies ein großer Fehler war. Eine einmal angebrochene Flasche muss natürlich nach russischer Tradition komplett geleert werden – wer hebt denn schon was für den nächsten Tag auf? Da ich mich nur mit ein paar bescheidenen Schlückchen beteilige, ist Vasili schon bald ziemlich blau.
Wir fahren direkt auf der Petschora nach Norden. Aufgerichtete Eisschollen schauen ab und zu aus dem Schnee. Das Wetter ist fantastisch: es ist sonnig, windstill und mit -15 Grad wieder knackig kalt. Alle 10 Kilometer halten wir an, um den Motor des „Buran“ etwas abkühlen zu lassen. Das sind unsere Vodka-Pausen, die mit jedem Halt etwas länger werden. Vasili fängt an, Schlangenlinien zu fahren, verliert an einer Welle den Schlitten und bemerkt dies erst nach einer ganzen Weile. Da ich bei meinem Rad im Schlitten sitze, bleibt mir nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis er umdreht. In der Zwischenzeit ziehe ich schon mal den Schlitten zurück an die Schneemobilpiste. Zur Weiterfahrt setze ich mich dann zu Vasili auf den „Buran“. Jetzt kann ich ihm Zeichen geben, als sich der Schlitten ein zweites und drittes Mal verabschiedet.
An einem kleinen Bach, der nicht komplett zugefroren ist, halten wir an und probieren von dem Wasser. Es schmeckt scheußlich, ich halte nichts davon. Verwundert geht Vasili ein zweites Mal an den Bach und setzt dabei sein rechtes Bein unter Wasser. Er kippt seinen Stiefel aus, brüllt, nimmt einen ordentlichen Hieb Vodka und fährt weiter. Als er anfängt, während der Fahrt seine Handschuhe auszuziehen, um seine Hände an der Abluft des Motors zu wärmen, mache ich mir allmählich Sorgen um den Kerl. Schließlich muss er ja noch alleine zurück fahren. Damit wir nicht wieder von der Piste abkommen, greife ich ihm über die Schulter und steuere den „Buran“, bis er seine Handschuhe wieder an hat. Irgendwann fahren wir vom Fluss zurück in die Aue, kommen abermals von der Piste ab und stürzen in lockeren Tiefschnee. „Buran“ und Schlitten liegen quer und wir strengen uns ziemlich an, um beides wieder auf die Spur zu bekommen. Gleich danach kippt das Gespann auf der anderen Seite erneut in den Tiefschnee.
Vasili steht schlotternd auf der Piste und fängt an zu resignieren: „Plocho... Doroga plocho, Buran plocho...“ (wörtlich übersetzt: „Schlecht... Weg schlecht, Buran schlecht...“) – Ich erwidere: „Doroga choroscho, Buran staryj, Vodka plocho!“ („Weg gut, Buran alt, Vodka schlecht!“) – Er: „Net! Vodka ne plocho!!“ („Nein! Vodka nicht schlecht!!“) – Er will es einfach nicht begreifen und posthum gegen Ärger und Kälte einen weiteren Schluck nehmen. Er sucht die Flasche, doch die liegt inzwischen bei meinem Gepäck. Er kommt nicht zur Ruhe, wir nicht von der Stelle. Es wird diskutiert und wehmütig an das baldige Ende unserer Begegnung gedacht. Irgendwann geht die Sonne unter und ich lasse ihn einen weiteren Schluck trinken, damit er endlich weiter fährt.
Bis Viska ist es zum Glück nur noch ein kleines Stück. Wir fahren vor ein „Magazin“ und wollen uns verabschieden. Ich dränge ihn, hier zu übernachten und frage, ob er Leute kenne, die ihn für eine Nacht aufnehmen würden – er hingegen drängt mich, eine weitere Flasche Vodka zu kaufen... Meine Geduld platzt und ich will ihm nur noch das Geld geben und abhauen. Doch er möchte anstelle der ausgemachten 1600 plötzlich 2600 Rubel haben. Ich gebe ihm 2000, die ich sowieso geben wollte, jetzt aber mit einem bitteren Beigeschmack. Während ich mein Fahrrad zu bepacken versuche, bettelt er weiter nach Zigaretten und Bier. Irgendwann lasse ich mich breitschlagen und kaufe ihm das Zeug – das Bier würde eh bald einfrieren bei den -25 Grad. Zu essen will er nichts. Alles in allem dauert die Verabschiedung geschlagene zwei Stunden. Der Kerl schlottert immer noch, ich gebe ihm meine Gesichtsmaske mit auf den Weg – mehr kann ich für ihn nicht machen. Ich hoffe, dass er es lebendig zurück schafft...
Mit meinem bepackten Rad rolle ich durch den dunklen Ort und suche die Piste, die weiter nach Narjan-Mar führt. Ich bin fest entschlossen, die restlichen 70 Kilometer zu Fuß zu gehen. Noch so eine Geschichte kann ich nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren. Die Schneemobilpiste macht einen passablen Eindruck. Wenn sie weiterhin so gut frequentiert bleibt, sollte zumindest Schieben wieder möglich sein. Doch noch bevor ich den Ort verlassen kann, treffe ich auf ein „Trekol“-Pistenfahrzeug mit sechs überdimensionalen Rädern. Wie sich herausstellt, hatte ich genau dieses Fahrzeug schon einmal auf dem „Zimnik“ hinter Chabaricha getroffen. Die Fahrer erinnern sich natürlich an mich. Ich werde kurzerhand eingeladen und mitgenommen. Wenig später sitze ich bei meinen nächsten Gastgebern in einer gepflegten und komfortabel eingerichteten Wohnung. Es tut gut, wieder unter gesitteten Leuten zu sein. Man gibt mir zu essen, heizt die Banja ein und lässt mich auch einfach mal in Ruhe herumsitzen, so dass ich meine Tagebuchnotizen fortführen kann.
Am nächsten Tag schaue ich mir den Ort genauer an. Ich befinde mich in Labozhskoe, welches auf einer großen Insel inmitten der Petschora liegt. Wie all die anderen Dörfer zwischen Ermitsa und Narjan-Mar, ist es von der Außenwelt abgeschnitten und auf sich gestellt. Ein Generatorhäuschen versorgt den Ort mit Strom, eine Flugzeuglandebahn am Flussufer erlaubt eine Versorgung aus der Luft. Ansonsten führen nur Schneemobilpisten hierher oder im Sommer die Boote. Meine Gastgeber betreiben ein Magazin, die Produkte beschaffen sie mit ihrem „Trekol“ aus Narjan-Mar. Bei Bedarf fungiert das Fahrzeug auch als Passagiertransport. Meine Chancen, bei dem nächsten Transport mitgenommen zu werden, stehen gut. Nur leider wird dieser erst in zwei Tagen stattfinden.
Aleksej, einer von den drei geschäftigen Brüdern der Großfamilie, nimmt mich mit zum Eisfischen unweit des Dorfes. Mit einem modernen Schneemobil fahren wir zügig durch die Buschtundra zu einer Jagdhütte. Zwei befreundete Jäger halten hier die Stellung, machen einen Monat Urlaub, wie ich später erfahre. Ein Fernseher läuft zum Zeitvertreib. Wir trinken einen Tee und fahren auf das Eis der Kleinen Petschora.
In unscheinbaren Schneehügeln stecken Zweige als Markierungen. Wir schaufeln den Schnee zur Seite und öffnen die darunter liegenden Eislöcher. Durch die isolierende Wirkung des Schnees sind diese nur dünn zugefroren. Am Zweig ist eine Schnur angebunden. An diese binden wir eine weitere und ziehen am gegenüberliegenden Loch das unter dem Eis hängende Netz aus dem Wasser. Eine ganze Menge Fische haben sich darin verfangen, vorwiegend Brassen, die es hier scheinbar in Massen gibt. Aleksej fitzt sie heraus und wirft sie vor den Schlitten in den Schnee. Da es -15 Grad kalt ist, erfrieren sie in kurzer Zeit. Danach ziehen wir das Netz an der zusätzlich angebundenen Schnur wieder zurück unter das Eis und schließen die Eislöcher vorsichtig mit Schneeblöcken. Drei bis fünf Tage maximal, dann fährt wieder jemand raus und leert die Netze.
Wir ziehen noch zwei weitere Netze unter dem Eis hervor und fahren schließlich bei Sonnenuntergang zurück in die Jagdhütte. Aleksej fährt weiter nach Labozhskoe, ich bleibe über Nacht bei den beiden Jägern. Zum Abend gibt es gebratene Elchleber und gefrorenen Lachs. Diese rustikale Kost gefällt mir – sie ist genau das, was man in dieser kalten Jahreszeit braucht. Draußen wird traditionell die Banja eingeheizt. Sie ist wieder unerträglich heiß. Selbst meine mitschwitzenden Kumpanen beißen sich beim Aufguss die Zähne zusammen... Nach ein paar Peitschenhieben mit Birkenzweigen gehen wir bei -23 Grad raus, um uns mit Schnee abzureiben. Der Wind hat aufgefrischt und pfeift uns um die Ohren. Eine Weile stehen wir dampfend unter dem klaren Sternenhimmel, dann geht es wieder rein in die hölzerne Schwitzbude. Irgendwann kapituliere ich und husche nach einem kurzen Waschgang zurück in die Jagdhütte. Ein schwaches Polarlicht glimmt am Nordhorizont. Das Leben hier draußen ist einfach herrlich.
Der nächste „Banjagang“ erfolgt in der Nacht. Bevor wir Schlafen gehen, wird im Ofen der Jagdhütte noch einmal ordentlich Holz nachgelegt. Das Feuer faucht und schmeißt eine wahnsinnige Hitze in den Raum. Mit trockenem Hals wälze ich mich ächzend auf dem Bett herum und bekomme kein Auge zu. Irgendwann wird es so unerträglich heiß, dass ich halbnackt vor die Tür trete und bei -25 Grad ein paar Minuten lang im Wind stehe, um wieder abzukühlen. Anscheinend ist mein Körper auch nach drei Hüttenübernachtungen immer noch auf permanente Kälte eingestellt.
Am nächsten Tag werde ich von Oleg, dem angehenden Schwiegersohn meiner Gastfamilie, abgeholt. Es gibt neue Nachrichten: Aleksej will mich schon heute mit einem Schneemobil nach Narjan-Mar bringen. Das kommt mir sehr entgegen, da ich den Rückweg nach Usinsk, der über einen gut frequentierten „Zimnik“ quer durch die Großlandtundra führt, noch soweit wie machbar per Rad bewältigen möchte. Wir laden mein Fahrrad und das ganze Gepäck wieder in einen Schlitten und fahren direkt auf die Große Petschora. Bei fantastischem Sonnenschein gleiten wir zwischen aufgerichteten Eisschollen über den Fluss, durchstreifen die malerische Buschwaldtundra und überqueren unmerklich ein paar gefrorene Seen. Der Wind hat zugenommen und fegt Schneewehen über die Piste. Auf dem See Gorodetskoe halten wir kurz an. Aleksej deutet auf ein paar Ruinen am Westufer – dort sei früher ein Dorf gewesen, sagt er – wie ich später noch erfahre, das erste in dieser Region: Pustozersk, erbaut im Jahre 1499.
Bei Sonnenuntergang erreichen wir nach nur anderthalb Stunden Narjan-Mar und besuchen die Familie von Aleksejs Schwester. Ich frage ihn, was er für die Fahrt möchte, doch er winkt nur ab. Diese bedingungslose Hilfsbereitschaft ist mir unbegreiflich. Ich bin nur ein Fremder auf der Durchreise, aber behandelt werde ich wie ein alter Bekannter der Familie. Anscheinend fühle nicht nur ich mich bereichert von unserer Begegnung.
Da es allmählich dunkel wird und mein Verbleiben noch unklar ist, frage ich nach einer „Gostinitsa“ in der Stadt. Aleksejs Nichte telefoniert kurz und sagt mir schließlich, dass eine Nacht 2000 Rubel (50 Euro) kostet. Das ist ein stolzer Preis, für den ich nicht mal in ein Hotel einkehren würde und entscheide mich, lieber am Rand der Stadt zu zelten. Doch das finden die Anwesenden überhaupt nicht akzeptabel und organisieren mir kurzerhand eine Bleibe bei einem Freund. Im Laufe des Abends versammeln sich immer mehr Leute in der Wohnung: Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn. Es werden Fotos geschossen – mit mir, dem deutschen Touristen, der im Winter mit dem Fahrrad gekommen ist...
Irgendwann verabschiedet sich Aleksej und fährt zurück nach Labozhskoe. Wir stellen Rad und Gepäck in die Garage und ich watschle mit dem Hausherrn meiner neuen Gastfamilie zu dem Freund, bei dem ich übernachten soll. Der empfängt uns ganz selbstverständlich, tischt etwas zu Essen auf und heizt – wie soll es anders sein – die Banja ein. Diesmal gibt es keinen Schnee zum abreiben, sondern einen Pool mit kaltem Wasser. Danach noch ein Gläschen „Mors“, einem Waldbeeren-Saftgetränk, und eine Runde Russisch Billard auf einem Tisch mit viel zu engen Löchern. Mir ist, als führte ich mit jedem Tag ein anderes Leben...

Narjan-Mar – Petschora

Mein Vorhaben, gleich am Morgen die Tundra-Etappe in Richtung Usinsk zu starten, scheitert am Wetter. Dauerschneefall und stürmischer Wind zwingen mich zu einer weiteren Übernachtung in der Stadt. Bei Schneesturm in die Tundra fahren, käme einem Blindflug gleich. Ich verbringe den Tag bei der Familie und die Nacht noch einmal bei deren Freund.
Dann endlich, nach vier Tagen, kann ich wieder auf mein Rad steigen und in Eigenregie weiterfahren. Der Schneesturm hat nachgelassen, es schneit nur noch ein bisschen und der Wind weht nicht mehr ganz so stark. Eine gut ausgebaute und teilweise eisfreie Schottertrasse führt mich hinaus in die einsamen Weiten der Tundra. Ich komme gut voran, es gibt nur am Anfang verwehte Abschnitte. Ein paar Mal ziehe ich mein Rad über hunderte Meter durch aufgewühlte Schneewehen. Ansonsten fährt es sich ganz passabel, der südwestliche Wind schiebt von hinten rechts.
Den ganzen Tag rolle ich durch eine monotone Schneewüste. Hin und wieder schauen ein paar Zweige von kleinen Büschen aus dem Schnee, doch bald gibt es nur noch den trüben Himmel und die weiße Ebene, dazwischen den Horizont, mehr nicht. Als die Dämmerung einsetzt, verschwinden allmählich die letzten Konturen der Landschaft. Ich habe das Gefühl, durch dichten Nebel zu fahren. Nur der Schatten der Piste zieht sich als schwarzes Band durch die weiße Einöde – er ist meine letzte Orientierung. Als es dunkel wird, setze ich mir die Kopflampe auf. Der Schwerlasttransport hat plötzlich zugenommen. Im Scheinwerferlicht entgegen kommender Fahrzeuge fegt der Schnee wie ein kriechender Nebel über die Trasse. Bei einem Blick zum Himmel bemerke ich, dass es aufklart. Obwohl es munter weiterschneit, funkeln bereits die Sterne am Firmament.
Im Nordwesten scheint es noch immer zu dämmern. Eigentlich ist es schon viel zu spät dafür. Nach einer Weile steigt der fahle Lichtschein höher und breitet sich über den gesamten Nordhimmel aus: es ist ein Polarlicht und es gewinnt immer mehr an Fläche und Dynamik. Der anfängliche Bogen verwirbelt, Strahlen tanzen auf diesem. Dann rollen gigantische Lichtwellen vom Horizont zum Zenit, fangen an zu flackern, brennen wie Feuer... Als der Verkehr nachlässt, fahre ich eine Weile ohne Licht durch die Nacht. Der grünliche Schein des Polarlichts erhellt die Tundra und lässt schemenhaft die unendliche Dimension dieser kargen Landschaft erahnen – eine wahrhaft mystische Stimmung umgibt mich...
In einem Flusstal entscheide ich mich nach etwa 100 Tageskilometern zu übernachten. Hier weht der Wind nicht mehr so stark, was den Aufenthalt im Freien angenehmer macht. Es sind -16 Grad. Ich will mein Zelt aufbauen, da ich befürchte, es könnte bis zum Morgen ein erneuter Wetterumschwung eintreten. Doch der Gummizug im Gestänge hat sich in der Kälte mal wieder so weit verlängert, dass ich die Stangen nicht zusammenstecken kann. Dasselbe Problem hatte ich schon vor Izhma, als ich das Zelt nur einmal wegen nahendem Schneefall aufstellen wollte. Ich hatte den Gummizug während meines Aufenthaltes in der „Gostinitsa“ um etwa 15 Zentimeter gekürzt und dachte, das würde reichen. Doch da hatte ich mich wohl getäuscht... Ich bin ziemlich verärgert, baue mir um das Kopfende einen kleinen Schutzwall aus Schneeblöcken und verkrieche mich unter einer zweiten Plane. Ich liege eingewickelt wie eine Roulade unter freiem Himmel. Mein Atem gefriert direkt an der Plane und rieselt bei jeder Bewegung ins Gesicht. Ich versuche mich kaum zu rühren und hoffe, dass der Wind ruhig bleibt.
Als ich in der Morgendämmerung aufwache, lichten sich Nebelschleier. Alles ist dick bereift. Während die Sonne hochsteigt, kürze ich den Gestängegummi noch einmal um etwa 15 Zentimeter. Die Vorstellung, bei einem Schneesturm ohne Zelt ausharren zu müssen, behagt mir überhaupt nicht. Wahrscheinlich müsste ich mir in einem solchen Fall ein Schneeloch graben, doch finde erstmal einen geeigneten Platz, wenn es darauf ankommt...
Über das Wetter kann ich mich aber zunächst nicht beklagen. Der Wind hat zwar auf Süd gedreht, so dass er mir jetzt bei kaum mehr als -15 Grad in die Seite bläst, doch es bleibt den ganzen Tag über klar und sonnig. Der Schnee blendet. Ich setze mir eine Schlitzbrille auf, wie sie einst auch von den Eskimos getragen wurde. Das Sichtfeld ist eingeschränkt, aber die Straße kann ich problemlos erkennen und fahre sicher weiter.
Nach ein paar Kilometern beginnt der „Zimnik“. Die aufgeschotterte Trasse geht über in eine ziemlich glatte Eisstraße, die sich dem Relief angepasst durch Mulden und Täler windet. Diese nur im Winter existierende Piste ist wahrhaftig aus Eis gebaut! Ein Tanklastfahrer, den ich frage, erklärt mir, dass etwa im Dezember eine vorgegebene Strecke vom Schnee befreit und mit Wasser bespritzt wird, damit sie zu einer passablen Fahrbahn gefriert. Ausbesserungsarbeiten an beschädigten Stellen finden auch auf diese Weise statt. Dann hört man streckenweise ein Knistern auf der Piste, da sie gerade dabei ist, neu zu gefrieren. Bis in den April hinein wird die Eisstraße wegen ihrer Wichtigkeit tagtäglich kontrolliert und bearbeitet. Sie ist die „Arterie“ von Narjan-Mar, wie einer der hier draußen lebenden Straßenarbeiter sagt.
Die zweite Nacht in der Tundra verbringe ich an einem Schneewall am Rande der geräumten Fahrspur. Hier bin ich relativ sicher vor dem Wind und versuche abermals mein Zelt aufzubauen. Es sind -20 Grad und der Gummizug ist erneut ausgeleiert. Das Gestänge passt diesmal gerade so zusammen. Doch dann ein neues Problem: die Stangen sind etwa 5 Zentimeter länger als das Zelt, ich bekomme sie nicht in die Ösen des Zeltbodens... Anscheinend haben die tiefen Temperaturen zum Beginn der Tour die Materialeigenschaften derart verändert, dass jetzt nichts mehr passt. Ich kapituliere und versuche das Zelt zu vergessen. Ich habe es die ganze Zeit unnütz mit mir herumgeschleppt – nicht ein einziges Mal konnte ich es auf dieser Tour aufbauen und werde es nun auch nicht mehr versuchen.
Auch diese Nacht bleibt ruhig. Am Morgen sitze ich erneut im Nebel und bin vollkommen eingereift. Der Wind hat weiter gedreht und weht nun bei knapp unter -15 Grad direkt von vorn. Ich kneife die Augen zusammen, die Wimpern frieren an meinem Gesichtsschutz fest. Mit der winddichten Jacke komme ich schnell ins Schwitzen und unterkühle mich beim Pausieren ein wenig. Am Abend werde ich krank, mich plagt eine ziemlich üble Erkältung. Die vielen Tage unter Rauchern während meiner Hüttenaufenthalte und der Gewaltritt am ersten Tag in der Tundra haben sicher ihren Teil dazu beigetragen. Ich finde Schutz in einem Flusstal und kampiere direkt hinter einem riesigen aufgeschütteten Schneehaufen. In der Nacht fällt die Temperatur auf -27 Grad. Alle Handgriffe laufen in Zeitlupe ab. Das Aufbauen des Schlafplatzes und das Kochen der allabendlichen Nudelsuppe erfordern viel Überwindung.
Am nunmehr vierten Tag in der Tundra ist das Ende des „Zimniks“ in greifbare Nähe gerückt. Die Wetterbedingungen sind perfekt: der Wind weht jetzt schwach von hinten, dazu wieder strahlender Sonnenschein bei Temperaturen von knapp über -20 Grad. Ich nehme mir vor, bis nach Charjaginskij, einer Arbeitersiedlung der hiesigen Gas- und Ölindustrie, zu fahren. Von dort will ich mich dann per Anhalter mit einem der vielen Schwerlasttransporter nach Usinsk oder gleich nach Petschora bringen lassen. Meine Zeit ist um, die Visafrist von einem Monat erlaubt mir keinen längeren Aufenthalt.
Auf der Piste erlebe ich heute das reinste „Fotoshooting“. Schon in den vergangenen Tagen hielten immer wieder Leute an, um mich zu fotografieren und zu filmen, doch heute jagt ein Fototermin den nächsten. Man erzählt mir, dass es hier schon Reisende auf Skiern oder mit Hundeschlitten gab, aber einen Radfahrer hat hier draußen noch niemand gesehen.
Dann, an einem Anstieg, verbiege ich mir bei einer blöden Anfahraktion mit schrägem Schlenker plötzlich das Hinterrad. Ich kloppe es soweit gerade, dass es ohne zu blockieren wieder durch den Rahmen läuft. Ich versuche auch, eine schon vor Tagen gebrochene Speiche zu wechseln, doch der Ritzelblock lässt sich nicht abschrauben – er ist angefroren. Eine hübsch schwingende Acht bleibt, aber ich kann weiterfahren. Ein paar Mal muss ich noch anhalten und das Rad richten. Irgendwann läuft es durch, ohne erneut zu schleifen. Mein Karren ist mittlerweile in einem ziemlich desolaten Zustand, denn es ist auch der Sattel und seit gestern der Rahmen angebrochen. Noch hält alles zusammen, doch wie lange noch? Es wird wirklich Zeit, die Radtour zu beenden.
Als ich am Nachmittag an der ersten größeren „Neftegas“-Anlage vorbeifahre, treffe ich auf eine Jeep-Kolonne mit Moskauer Journalisten, die für die Zeitschrift „Avtorevju“ schreiben. Zwei Tage zuvor hatten wir schon eine Begegnung, als sie in Richtung Narjan-Mar fuhren. Jetzt wollen sie zurück nach Moskau und bieten mir an, mich mitzunehmen. Die Truppe kommt wie gerufen – ein Geschenk des Himmels...
Noch am selben Abend erreiche ich Petschora, nehme mir ein Zimmer und bereite mich auf die Rückfahrt vor. Mir geht es ziemlich dreckig, die Erkältung hat ihren Zenit erreicht. Ich erhole mich nur langsam, verbringe einen ganzen Tag in der „Gostinitsa“ und schleppe mich am darauf folgenden Abend zum Bahnhof. Am Fahrkartenschalter schikaniert man mich wieder mit dem bürokratisch so vielseitigen Prozedere, mein Übergepäck zu quittieren. Keiner fühlt sich befugt, für umgerechnet zwei Euro einen simplen Zettel auszufüllen. Ich gewinne die Bahnhofsmiliz für mich und die Sache ist schnell geregelt...
Um vier Uhr in der Frühe fährt endlich mein Zug ab. Bis ich wieder in Deutschland bin, werde ich fünf Tage mit fünf Umstiegen über mich ergehen lassen müssen – genug Zeit, um noch einmal die Erlebnisse der vergangenen Wochen zu reflektieren. Ich stelle fest: diese Reise war kein leichtes Unternehmen, aber ein großes Plus an neuen Erfahrungen und Erkenntnissen.

Richard Löwenherz      

Dieser Bericht erschien in gekürzter Form in "Globetrotter - Das Reisemagazin für Weltentdecker" Nr. 109, Frühling 2014
(vierteljährliche Zeitschrift aus der Schweiz mit ausführlichen Reisereportagen)


Kompletter Reisebericht als pdf...
Bericht im Globetrotter-Magazin (www.globetrotter-magazin.ch)...

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