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Über den Suntar-Chajata zum Ochotskischen Meer...
Teil 3: Passgang zum Nitkan

Im Tal des Choron

Zunächst kürzten wir wegelos durch ein Stück Lärchentaiga ab. Das war gar nicht so einfach, da wir uns jedes Mal genau merken mussten, wo wir den zurückgelassenen bzw. vorgetragenen Rucksack abgelegt hatten. Wenn man Etappen von 300 bis 500 m läuft, kann man sich auf dem Rückweg schon um einiges vertun. Die Taiga hier war aber recht abwechslungsreich, so dass wir in regelmäßigen Abständen markante Orientierungspunkte fanden und uns einprägten.
Bei schon fortgeschrittener Abenddämmerung erreichten wir schließlich das breite Schotterbett des Choron. Ein kapitaler Elch polterte gerade am Wasser entlang, beobachtete uns eine Weile, verschwand dann aber rasch in der Taiga. Gefühlt waren wir plötzlich an einem vollkommen neuen Ort – umgeben von majestätischen schneebedeckten Bergen, die hier irgendwie abgelegener wirkten, als noch vom Suntar aus gesehen.
Am nächsten Tag gingen wir weiter am linken Ufer entlang – meist im Schotterbett, teils aber auch durch die ufernahe Taiga. Immer wieder stießen wir dabei auf Segmente eines Pfades – ob Pferde- oder Bärenpfad, war allerdings nicht zu erkennen. Kurz vor der Baumgrenze fanden wir erneut eine Blockhütte, allerdings war diese in einem desolaten Zustand mit offenstehender Tür, offenen Fenstern und marodem Dach. Dafür gab es einen soliden zweistöckigen „Labas“, der zur bärensicheren Ablage von Ausrüstung und Proviant geeignet wäre... Hinter der Hütte liefen wir noch bis ans Ende einer langen Gebüschaue und schlugen unser Lager an einem kleinen Nebenlauf des Choron auf. Hier konnten wir ein letztes Mal über Feuer kochen, ehe wir weiter in die karge Bergtundra aufsteigen und für einige Tage kein Holz mehr haben würden.

Entscheidung am Mus-Chaja

Wie genau es weiter gehen soll, hatten wir allerdings noch immer nicht besprochen. Wir lagen bereits etliche Tage hinter unserem Zeitplan, weshalb ich mich innerlich schon fast damit abgefunden hatte, dass wir es nicht mehr zum Ochotskischen Meer schaffen würden. Doch was wären die Alternativen? Wir könnten den Mus-Chaja (knapp 3000 m) besteigen, müssten dann aber umkehren und auf gleichem Wege wieder zurückgehen – nach der mühsamen Treideletappe nicht gerade motivierend, zumal ein Rafting im Bereich der Naleds noch immer gefährlich wäre... Einen anderen Fluss zurück konnten wir aber nicht wählen, da wir von der Umgebung keine Karten hatten. Also vielleicht doch weiter nach Plan? Es lagen zwar noch mindestens 500 km Wildnis vor uns – mehr als das Vierfache der bisherigen Strecke (wir hatten erst 120 km geschafft) – aber die sollten sich flussabwärts recht schnell überwinden lassen (Clemens und Jakob schafften auf ihrer Herbsttour Tagesetappen bis 70 km).
Nachdem ich das Ganze noch einmal gedanklich durchgespielt hatte, fasste ich neuen Mut und sah wieder eine realistische Chance, dass wir Ochotsk doch noch zum angepeilten Datum erreichen könnten – allerdings nur, wenn wir uns entsprechend ranhalten und jeden Tag voll ausnutzen. Für Robert kam so ein Durchhetzen aber nicht in Frage, ebenso eine Umkehr nicht – für ihn war der Höhepunkt der Tour hier in den Bergen des Suntar-Chajata und so versuchte er mich davon zu überzeugen, den Mus-Chaja nicht einfach fallen zu lassen. Ein paar Tage Verzögerung gab es ohnehin schon und mit dem Proviantbonus aus dem Ewenen-Lager könnten wir uns eine Besteigung des höchsten Gipfels (rund 5 Tage) möglicherweise noch erlauben, ehe wir unsere Route nach Ochotsk fortsetzen. Das wiederum kam aber für mich nicht in Frage, obwohl mich eine Bergbesteigung in dieser abgelegenen Gebirgsregion sehr gereizt hatte. Mir saßen ein paar wichtige Termine im Nacken, die mich nur den kürzesten Weg nach Ochotsk akzeptieren ließen – schließlich war das auch der abgesprochene Zeitplan... Robert hatte allerdings keinen Druck nach hinten raus, ihm stand genug Zeit zur Verfügung und so schlug er vor, die Tour auf getrennten Wegen fortzusetzen. Ich war einverstanden, denn allein würde ich ohnehin viel schneller vorankommen.
Den Gemeinschaftsproviant teilten wir brüderlich in zwei Hälften. In meinen Augen war er gerade so ausreichend, um damit bis zum 9. Juli Ochotsk zu erreichen (ich rechnete bei gleich bleibenden Tagesrationen mit rund 16 Tagen). Robert hingegen meinte, seinen Anteil notfalls bis zum 23. Juli strecken zu können (er rechnete bei reduzierten Tagesrationen mit maximal 30 Tagen). Immerhin hatte er für die Bergetappe noch sein komplettes Paket an Trockenobst, Nüssen und Halva aufgespart, meinen Teil hatte ich schon während des Treidelns fast vollständig aufgegessen... Diesen Bonus hatte Robert am Ende auch gebraucht, da er während der Bergetappe ohne Kochen auskommen musste – Gaskocher und Gaskartuschen überließ er nämlich mir.
Aufgeteilt haben wir auch die Karten. Glücklicherweise hatten wir die komplette Route sowohl in 1:500.000 als auch in 1:200.000, die Bergetappe zudem in 1:100.000. Da Robert ein GPS besaß, nahm er die 1:500.000er und für die Berge die 1:100.000er sowie Strannics 1:200.000er. Ich dagegen übernahm alle 1:200.000er, um mich auch ohne GPS ausreichend orientieren zu können. Soweit war also jeder nach seinen Vorstellungen versorgt, nur beim SPOT-Gerät fiel die Entscheidung nicht ganz leicht – für wen würde es wohl wichtiger sein? Wahrscheinlich blieb es am Ende nur deshalb bei mir, weil es auf meinen Namen lief...

Weiter auf getrennten Wegen

Den ersten Kilometer in Richtung Pass gingen wir noch gemeinsam. Robert wollte den für die Bergbesteigung nicht benötigten Teil der Ausrüstung und des Proviants schon mal hinaufbringen und anschließend wieder in sein Basislager zurückkehren, wo es noch Feuerholz gab. Erst danach würde er seine Bergtour über das Suntar-Chajata-Tal zum Mus-Chaja starten. Da er mit einem Rucksack schneller war, als ich mit meinen beiden, verschwand er schon bald aus meinem Sichtfeld.
Der Choron führte hier oben erstaunlich viel Wasser. Wäre die Strömung nicht so stark, hätte man theoretisch noch treideln können. Aber schon die erste Querung des Flusses offenbarte die Wucht des Wassers, die mir fast die Beine wegfegte und Robert in einem ungünstigen Moment die Stiefel füllte. Mit diesen lief er dann noch bei Kälte, Wind und Regen die ganzen 8 km zum Pass und wieder zurück. Erst gegen zwei Uhr morgens kam er an meinem Zelt vorbei, welches ich inzwischen aufgeschlagen hatte – hier verabschiedeten wir uns dann offiziell und hörten erst nach einem Monat wieder voneinander...
Am nächsten Tag herrschte richtiges Sauwetter mit wiederholten Regenschauern – eigentlich ein Tag, den man getrost im Zelt verbringen konnte. Doch ich wollte keine Zeit verlieren, warf mir meinen Regenmantel über, krempelte die Watstiefel hoch und ging das Choron-Tal ohne große Pausen weiter aufwärts. Ich folgte dem Fluss auf der linken Seite, man konnte ihn nicht queren, er war voll vom abfließenden Regenwasser – eine reißende trübe Brühe. Mit der Zeit wurde das Gelände schwieriger, vor allem da, wo sich der reißende Strom durch kleine Schluchten bahnte und die Berghänge steinig oder sehr hoch waren. Später kamen noch vermehrt Schneefelder hinzu, in die ich teilweise oberschenkeltief einsackte. Roberts Spuren vom Vorabend verrieten, dass es ihm ähnlich erging. Irgendwann bin ich dann nicht mehr umhin gekommen, den Fluss zu furten, was auch oberhalb von zwei Zubringern an nur wenigen Stellen möglich war.
Als ich wenig später eine Felswand im strömenden Wasser umging, hörte ich plötzlich ein Poltern – wahrscheinlich nur eine Steinbewegung im Fluss. Aber mir war, als ob ein Stein direkt über mir abbrach und so schaute ich intuitiv nach oben. Im selben Moment verlor ich das Gleichgewicht und stürzte rückwärts ins eiskalte Wasser (der Quellgletscher war nicht mehr weit)... Ruckzuck riss mich die Strömung ein paar Meter flussabwärts, ehe ich in der Lage war, mich mit dem schweren Rucksack auf dem Rücken wieder aufzurichten. Was für eine bedepperte Situation! Ich war komplett nass, die Luft hatte 5 Grad und es gab weit und breit keinen Platz zum Zelt aufschlagen. Ich ging an eine trockene Stelle, leerte meine Watstiefel, zog fix all meine Klamotten aus, um sie auszuwringen und kramte im Rucksack nach trockenem Ersatz. Die Oberbekleidung wechselte ich, Hose und Socken zog ich wieder an. Es hat eine ganze Weile gedauert, aber irgendwann gelang es mir, mich wieder warmzulaufen... Im Gepäck hatte ich jetzt ein paar Kilo mehr – vollgesogene Sachen wiegen!

Dritter Bärenbesuch

Im Schummerlicht des Abends erreichte ich endlich die Passhöhe und erspähte auf der anderen Talseite Roberts vorgetragenen Ortliebsack. Ob er hier sicher lagert? Was, wenn sich in der Zwischenzeit ein Bär daran vergreift? Beim Aufstieg hatte ich immer wieder Abdrücke von großen Bärentatzen gesehen... Wahrscheinlich hatte ich zu laut gedacht, denn gerade als ich auf der letzten schneefreien Fläche einen Platz zum Übernachten fand und meinen ersten Rucksack absetzte, sah ich vom Nitkan-Tal einen großen Bären auf mich zukommen.
Da er noch weit weg und der Wind mit ihm war, hatte er mich noch nicht bemerkt und so lief ich rasch zurück zu meinem zweiten Rucksack, in dem sich auch der ganze Proviant befand, und stieg mit diesem einen schneefreien Berghang hoch, um den Bären aus scheinbar sicherer Distanz passieren zu lassen. Zunächst stapfte er unbekümmert dicht am Fluss entlang, doch als er auf Höhe meines zurückgelassenen Rucksacks war, witterte er etwas, richtete sich auf und rannte plötzlich zurück – direkt auf die Stelle zu, an der ich vorhin noch stand. Da mir aber eine kleine Anhöhe die Sicht versperrte, konnte ich nicht beobachten, was der Bär dort macht. Also stieg ich noch ein Stück höher, bis ich den Platz, an dem der Rucksack lag, einsehen konnte. Vom Bären war dann aber nichts mehr zu erkennen, offenbar hatte er das Weite gesucht und ist dahin zurück, wo er hergekommen war... Sicher war ich mir aber nicht, es gab genug Senken, die ich nicht überblicken konnte.
Vorsichtig ging ich zurück an die Stelle, wo ich bereits durch den Schnee gegangen war und sah nun genau in meinen Fußstapfen die Abdrücke der Bärentatzen – er war wirklich exakt meiner Spur nachgegangen, direkt zum Rucksack! Der lag aber noch genauso da, wie ich ihn zurückgelassen hatte – der Bär war einfach daran vorbeigegangen, wie die weiterführenden Spuren im Schnee verrieten. Nachts machte ich mir noch Sorgen, dass er zurückkehren könnte, aber er tauchte nicht mehr auf.

Über den Pass zum Nitkan

Am nächsten Morgen gab es kräftigen Wind und Sonnenschein – ideal zum Trocknen der noch nassen Klamotten. Jetzt bei diesem Licht wirkte die Passhöhe schon viel freundlicher, sogar einen Kuckuck hörte ich hier oben... Bis zum eigentlichen Pass, der Wasserscheide zwischen Choron und Nitkan bzw. der Grenze zwischen Jakutien und dem Chabarovsker Gebiet (rund 1950 m), musste ich noch ein kleines Stück gehen. Auf breiter Fläche lag hier noch eine Menge Schnee; der war aber schon so sehr mit Schmelzwasser durchtränkt, dass er sich beim Durchstiefeln in einen regelrechten Brei verwandelte. Bis an den Pass heran gab es einen markanten Abfluss, auch auf der Nitkan-Seite traf ich sofort wieder auf einen Bach mit abfließendem Schmelzwasser.
Der Pass selbst war markiert durch einen Haufen aufgeschichteter Steine. Es war ein bewegender Moment, nach dreieinhalb Wochen nun plötzlich in ein anderes Tal zu schauen – eine neue unbekannte Landschaft lag vor mir und ich spürte, wie sie mich in ihren Bann zog... Ich hinterließ Robert eine Nachricht, damit er wusste, wann ich hier rüber bin – für den Fall, dass er früher umkehrt und meint, mich noch einholen zu können.
Der Abstieg in das Nitkan-Tal war recht steil. Eine enge Schlucht musste weit oben auf den Berghängen umgangen werden. Auch hier gab es immer wieder Schneefelder, die sich nur Schritt für Schritt mit kleinen vorgefertigten Trittflächen queren ließen, ansonsten wäre ich immer wieder bis zum Oberschenkel eingebrochen. Hin und wieder zeigten sich auch Fragmente eines Pfades – offenbar wählte ich intuitiv den richtigen Abgang.
Weiter unten gab es dann von rechts einen reißenden Zubringer, welcher schon so voll war, dass ich ihn gerade so noch queren konnte. Dahinter blieb ich auf der rechten Seite des nun beginnenden Nitkans und lief durch die Bergtundra dem Frühling entgegen, denn je weiter ich abwärts ging, umso mehr blühten die Wiesen. Dann an einer Stelle mal Hinweise auf menschliches Treiben: ein verrosteter Ofen, eine Kanne, leere Konservendosen – wahrscheinlich hatten hier Ewenen mal ein Lager gehabt... Immer wieder fiel mein Blick auf den brausenden Nitkan – er war zwar schon richtig voll, aber noch viel zu wild und gefährlich, um ihn zu Befahren.
Etwa 8 km unterhalb des Passes fand ich dann endlich einen idealen Einstiegspunkt: eine herrliche Felspforte mit ruhigem Becken, dahinter nicht mehr ganz so wildes Wasser – ab hier wollte ich es versuchen. Ich füllte mein Boot mit Luft, verzurrte mein Gepäck, zog mir einen Trockenanzug über und stieg ins Wasser. Ganze 26 Tage hatte ich diesem Moment entgegengefiebert – kein Treideln mehr, sondern richtiges RAFTING!!!!

weiter zum Teil 4: Nitkan und Judoma...

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