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Über den Suntar-Chajata zum Ochotskischen Meer...
Teil 2: Den Suntar aufwärts

Marsch zum Suntar

Um einen Fluss treideln zu können, braucht man relativ ruhiges Wasser und begehbare Ufer bzw. Schotterbänke. Auf den ersten Kilometern ab der Brücke, zieht der Suntar aber ein paar enge Kurven mit reißender Gegenströmung, so dass Treideln hier noch keinen Sinn machen würde. Abgesehen davon müsste man wegen des kurvigen Flusslaufs einen viel längeren Weg zurücklegen, als wenn man einfach daneben durch die Taiga geht. Daher war für uns klar, dass wir die ersten Kilometer mit noch verpackten Booten zu Fuß gehen.
Wir folgten einem versumpften Fahrweg, der offenbar nur einmal im Jahr – am Ende des Winters, wenn der Schnee schon zusammengesackt ist, die Sümpfe aber noch gefroren sind – befahren wird, um das abgelegene Lager der ewenischen Rentierzüchter zu versorgen. Jetzt zum Monatswechsel Mai/Juni war der Schnee bereits weg und der Boden oberflächlich aufgeweicht. Nur wenige Zentimeter darunter stand aber noch der Permafrost an, so dass man mit dem Wanderstock immer wieder wie auf Fels stieß. Auch später, als wir durch die überfluteten Wiesen der sumpfigen Flussaue wateten, liefen wir teilweise auf hartem Grund.
Da jeder von uns etwa 60 kg dabei hatte, musste das Gepäck auf jeweils zwei Rucksäcke mit rund 30 kg aufgeteilt werden – alles auf einmal zu schleppen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Das bedeutete aber auch, dass wir die zu bewältigende Strecke dreimal gehen mussten: erst mit einem Rucksack vor, dann mit freiem Rücken zurück und schließlich mit dem zweiten Rucksack hinterher... das wiederholt in Abständen von ungefähr 300 bis 500 Metern. Über den Tag legten wir so rund 17 km zurück, effektiv jedoch nur fünfeinhalb.
Laufen mit so schwerer Last ist nicht gerade mein Ding, bereits nach anderthalb Marschtagen bekam ich das deutlich zu spüren und sehnte mich danach, baldmöglichst mit dem Treideln zu beginnen. Praktisch hätten wir auch schon am zweiten Tag einsteigen können, aber da sich der Weg in der ebenen Aue abschnittsweise recht gut lief, entschieden wir uns, noch ein paar weitere Flussbiegungen zu umgehen. Doch dann wurde der Weg immer schwieriger, die Sumpfflächen breiter, das Wasser tiefer und der Permafrost unterm Gras tückischer mit versteckten Eiskanten und Löchern.

Beginn der Treideletappe

Am dritten Tag war es dann endlich soweit. An einem verlassenen Lagerplatz der Ewenen fanden wir einen guten Zugang zum Fluss und bauten unsere Schlauchboote auf. Es gab hier noch flächiges Eis auf dem Wasser, ufernah war dieses aber meist schon aufgetaut und ein Durchkommen stets ohne Umtragen möglich. Für die Verhältnisse kamen wir gut voran und blieben optimistisch. Die Zeit zwischen dem Aufbrechen des Eises und der Schneeschmelze in den Bergen (die irgendwann noch folgen würde), schien gar nicht so schlecht zu sein, denn der Wasserstand war recht niedrig und große Bereiche der Schotterbänke lagen frei. Ein klassisches Frühjahrshochwasser sieht jedenfalls anders aus...
Doch dann raffte uns aber ein grippaler Infekt hin. Wir beide zur gleichen Zeit? Wie kann das sein? Ich erinnerte mich, dass wir unter den Mitfahrern nach Jutschjugej ein junges Mädchen hatten, das ziemlich erkältet war – von ihr hatten wir uns wahrscheinlich die Viren eingefangen und während der Schinderei der letzten Tage hat unser Immunsystem wohl zu wenig Widerstand geleistet... Wir legten einen Ruhetag ein und erholten uns etwas, dann gingen wir weiter. Rotz und Husten begleiteten uns aber noch mindestens eine Woche.
In den nächsten Tagen stellte sich erstmals frühlingshaftes Wetter ein: die Sonne schien, es wurde wärmer und die Natur bekam einen richtigen Entwicklungsschub. Die bisher kahlen Lärchenwälder trieben ihr Grün aus, Blumen blühten und Kuckuckrufe, die schon vom ersten Tag an zu hören waren, ertönten nun immer häufiger, teilweise die ganze Nacht hindurch. Mit den Mücken verhielt es sich zum Glück umgekehrt. Beim Fußmarsch durch die Taiga verfolgten sie uns scharenweise, vor allem zum Abend hin, selbst bei null Grad summten sie noch gierig um uns herum. Jetzt hatten wir Ruhe und wurden kaum noch belästigt, möglicherweise auch, weil wir uns nun die meiste Zeit im offenen Flussbett bewegten.
Je weiter wir aufwärts gingen, desto winterlicher wurde allerdings der Flusscharakter. Kurzum: der Eisanteil nahm stetig zu – Eis in der Mitte, Eis am Rand, Eis unter Wasser; dazu Eisschollen, die uns entgegen trieben, schnaufend kollidierten, sich auftürmten, blockierten... Auch der Wasserstand stieg allmählich etwas an. Wo es nicht weiterging, wechselten wir die Seiten, teils watend, teils paddelnd. Wenn das gegenüberliegende Ufer keine bessere Alternative bot, zogen wir das Boot an der Eiskante weiter, bei stark unterströmter oder spröder Kante auch mal wie einen Schlitten direkt über das Eis. Die schwierigsten Stellen waren aber jene, wo der Fluss ein wirres Netz an Kanälen ins Eis gespült hatte und auch der Grund noch aus Eis bestand, teilweise mit tückischen Spalten. Ein falscher Schritt und man rutschte ins tiefere Wasser – ruck zuck waren die Watstiefel dann eiskalt aufgefüllt... Mit der Zeit entwickelten wir aber ein gutes Gespür, wohin man sich wagen konnte. Wir lernten den Fluss kennen: im wahrsten Wortsinne in- und auswendig.
Im Laufe der Tage rückte auch die Gipfelkette des Suntar-Chajata ins Blickfeld. Wir hatten uns optional vorgenommen, je nach Möglichkeit noch zwei der höchsten Berge zu besteigen (Palatka und Mus-Chaja), doch schon der erste Anblick der tief verschneiten Berge ließ mich zweifeln – sie wirkten geradezu unbezwingbar... Wir hatten zwar Steigeisen dabei, um auch über die Gletscher laufen zu können, aber bei diesen Schneemengen würden sich wohl eher Schneetreter anbieten. Bis zum Palatka oder Mus-Chaja war es aber noch ein langer Weg und es war noch nicht raus, wie viel Zeit am Ende für eine eventuelle Besteigung bleiben würde. Im Moment kamen wir nicht besonders schnell voran – 11 km betrug unsere bisher längste Tagesetappe.

Erster Bärenbesuch

Bei wieder eingetrübtem Wetter zogen wir eines Abends unsere Boote einen schmalen Eiskanal entlang, als am gegenüberliegenden Ufer plötzlich ein Bär auftauchte. Robert bemerkte ihn als erster und deutete mir wortlos die Richtung. Obwohl ich schon mehrfach in der russischen Taiga unterwegs war, hatte ich noch nie einen Bären zu Gesicht bekommen – dies war nun also mein erster direkter Kontakt. Der Theorie nach geht der Bär dem Menschen aus dem Weg, sobald er ihn wittert oder aus sicherer Entfernung als fremden Taigabewohner erkennt. Doch dieser Bär preschte plötzlich wie angestochen direkt in unsere Richtung. Offenbar hatte er die Wurst gewittert, die wir kurz zuvor während einer Pause aßen und nun noch aus unseren Mündern roch...
Als nur noch der Hauptstrom des Suntar zwischen uns und dem Bären lag, versuchten wir ihn mit lauten Rufen, Trillerpfeife und erhobenem Paddel auf uns aufmerksam zu machen, doch das ließ ihn völlig unbeeindruckt. Immerhin zögerte er und drehte schließlich ab, dann ging er aber ins Wasser und durchschwamm den Hauptstrom flussabwärts auf unsere Seite. Da nicht klar war, ob er anschließend noch über das Eisfeld, auf dem wir gerade standen, zu uns kommen würde, sprangen wir schnell in unsere Boote und paddelten zum gegenüberliegenden Ufer, wo eben noch der Bär war. Von ihm haben wir dann auch nichts mehr gesehen... Dieses offensive Auftreten hatte uns sichtlich überrascht – es war völlig untypisch. Da der Winter hier erst vor kurzem endete, mussten die Tiere noch sehr hungrig sein.

Hochwasser im Canyon

Am Beginn einer längeren Schlucht ging es vorerst nicht weiter. Zu tief war das Wasser, um zu treideln, zu stark die Strömung, um dagegen anzupaddeln und zu brüchig das Randeis, um es gefahrlos zu begehen. Wir fanden noch gerade so einen Zugang zum Taigaufer, schlugen dort unser Lager auf und grübelten, wie es weitergehen könnte. Wir zogen eine Umgehung des Canyons quer durch die Taiga in Betracht – Luftlinie wären das höchstens vier Kilometer. Allerdings gab es hier keine vorgetretenen Pfade, so dass es nicht leicht sein würde, die etappenweise abgelegten Rucksäcke wiederzufinden...
Über Nacht stieg das Wasser weiter an, dann regnete es auch noch kräftig. Die Eismassen, die bei Ankunft noch begehbar waren, setzten sich dabei immer mehr in Bewegung, bis sich irgendwann der Flusslauf vor unseren Augen in einen riesigen Eissee verwandelte, aus dem die aufgebrochenen Eisschollen unter wildem Getöse flussabwärts trieben. Als die Sonne herauskam, erkundeten wir den ersten Teil der Schlucht. Bis zur Biegung nach Süden schien ein Durchkommen möglich und so entschieden wir uns, hineinzugehen.
Als wir starteten, sank der Wasserpegel zum Glück wieder ab – etwa um einen halben Meter! Wäre er höher geblieben, dann hätten wir schon nach wenigen hundert Metern umkehren müssen. An einer Klippe, die im Wasser nicht zu umgehen war, mussten wir dann das erste Mal portieren. Auch im Hauptteil der Schlucht war es noch einmal nötig, Gepäck und Boote ein Stück durch die Taiga zu tragen (höchstens 200 m, oft auf Bärenpfaden), ansonsten sind wir ganz gut durchgekommen. Massives Randeis sorgte abschnittsweise für eine Kanalisierung des Abflusses, aber gerade diese Eisflächen halfen uns auch, die strömungsstarken Bereiche sicheren Schrittes zu passieren.

Querung der Flussgletscher

Nachdem wir die Schlucht durchquert hatten, lag vor uns plötzlich eine riesige weiße Fläche: das erste Naled. Ein Naled ist grob umschrieben so etwas wie ein Flussgletscher, der im Laufe eines Winters von unten nach oben anwächst, wobei nachströmendes Wasser über bereits gefrorenen Grund fließt und vor allem in breiten Bereichen mit wenig Gefälle Schicht für Schicht gefriert. Mehrere Meter dick kann so ein Eispanzer werden und je nachdem, wo sich im Frühjahr der Fluss wieder durchfrisst, können beachtliche Teile des Eises den ganzen Sommer, teilweise auch mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte überdauern.
Jetzt im Juni waren die Naleds noch sehr mächtig und vom abfließenden Schmelzwasser nur teilweise durchbrochen. Ein unübersichtliches Netz aus Kanälen mit reißenden Strömen hatte sich hier gebildet – unmöglich zu treideln, viel zu gefährlich! Wir blieben am sicheren Rand und zogen unsere Boote wie Pulkas über das Eis. Was uns in diesem Moment noch wie das Überwinden eines Hindernisses vorkam, sollte in den kommenden Tagen über etliche Kilometer unser Fortkommen bestimmen. Es folgte Naled an Naled, insgesamt vier große Flächen, die wir teilweise wie eine Polarexpedition querten.
Zu Beginn fanden wir am Rand noch ein paar Wasserpassagen und stocherten uns wie Blinde durch die trübe aufgewühlte Brühe. Es ging durch die überflutete Aue, wohin das Wasser immer wieder verdrängt wurde, oder durch breite Eiskanäle, die nach dem Abklingen vorübergehender Hochwasserwellen kaum noch Wasser führten. Einmal sind wir in so einem Kanal der schwachen Strömung entgegen gepaddelt, während um uns herum bizarre Eisformationen in der Luft hingen – einer der vielen kleinen Höhepunkte, die man trotz des schleppenden Vorankommens nahezu jeden Tag erlebte. Es wurde jedenfalls nie langweilig...
Auf den zwei großen Naleds hinter dem Zufluss des Ugamyt (die auch in den russischen Karten verzeichnet sind), blieb uns dann nichts anderes mehr übrig, als mitten über das Eis zu laufen. Schon der Zugang zum Eis war nicht ganz ohne – es gab an der Ugamyt-Mündung nur eine Stelle, an der es der reißende Strom erlaubte, die Seiten zu wechseln. Weiter oberhalb rauschte der Suntar quer durch einen vereisten Wald, hier konnte man unmöglich weitertreideln... Das Laufen auf dem oftmals blau schimmernden Eis war richtig entspannend: eine weite ebene Fläche, keine Gegenströmung, keine komplizierten Hindernisse; wir peilten eine Richtung an und gingen einfach.
Um den Abrieb am Bootsboden so gering wie möglich zu halten, trugen wir bei den Naledpassagen immer einen Rucksack auf dem Rücken. Der Untergrund bestand größtenteils aus Eispolygonen, die wie Bergkristalle aussahen und mit ihren Spitzen nach oben gerichtet eine harte raue Oberfläche bildeten. Es gab aber auch immer wieder Bereiche mit einer matschigen Eisbrei-Auflage, bei der man nie genau wusste, wie tief man einsinkt – es hätte ja auch mal ins Bodenlose gehen können...
Zwischen den Naleds zeigten sich aber auch längere eisfreie Flussabschnitte, auf denen man klassisch treideln konnte. Die Strömung war hier allerdings schon etwas kräftiger, als im Unterlauf des Suntar, an einigen Stellen sogar so stark, dass mein Boot mich beinahe ins Wasser gerissen hätte – oder schlimmer noch – ohne mich abgehauen wäre. Robert schien weniger Mühe zu haben, gegen die Strömung anzukämpfen, die gebogene steife Form seines Bootes ließ es offenbar leichter über das Wasser gleiten. Wenn es an solchen Stellen noch verholzte oder steile Ufer gab, mussten wir beide portieren. Aufgrund der vielen Schwierigkeiten und Hindernisse schafften wir im Bereich der Naleds nur noch 4 bis 8 km am Tag.
Da es um diese Jahreszeit nie wirklich dunkel wurde, gingen wir immer häufiger bis weit in die Nacht hinein. Vor allem an verzwickten Abschnitten erlaubten uns die „weißen Nächte“ noch so lange weiterzumachen, bis ein geeigneter Lagerplatz auftauchte. Manchmal sind wir erst gegen Mitternacht angekommen und ins Zelt gekrochen, als es schon wieder heller wurde. Entsprechend spät fiel dann allerdings auch der Aufbruch am nächsten Tag aus...

Zweiter Bärenbesuch

Als ich eines Morgens schon wach im Zelt lag, hörte ich im Fluss ein lautes Platschen. Ich lugte durch den Zelteingang und sah, wie eine Elchkuh und ihr Junges flussabwärts trotteten. Kurz darauf folgte ein Bär. Dieser lief zunächst wie die Elche den Fluss hinab, doch dann wechselte er auf einmal die Seite und kam direkt auf unser Lager zu, genau genommen auf Roberts Zelt. Robert schlief aber noch und wusste nichts von seinem „Glück“, daher versuchte ich den Bären mit Rufen und lautem Topfgerassel zu erschrecken. Doch das schien ihn erst recht anzulocken und so nahm er plötzlich Kurs auf mein Zelt...
Mist! Wäre ich mal bloß still geblieben, dachte ich mir. Ich saß wie angewurzelt noch halb im Schlafsack und hielt meinen Atem an. Was würde jetzt passieren? Hoffentlich tatscht er das Zelt nicht an, ging mir durch den Kopf. Und tatsächlich, es passierte nichts, er ging am Zelt vorbei und verschwand offenbar in der Aue. Ich wartete noch eine ganze Weile, ehe ich es wagte, hinauszuschauen. Auch Robert war inzwischen wach und schaute sich um – vom Bären war nichts mehr zu sehen.
Ich hatte erwartet, dass er wenigstens versucht, an die Proviantsäcke zu gehen. Aber nachdem er zwischen Zelt und Booten keine typische Beute vorfand, hat er scheinbar schnell das Interesse verloren. Dass sich ein Bär so verhält, beruhigte natürlich etwas, falls es mal nachts einen Besuch geben würde. Doch dass ich mit meiner „Bärenglocke“ – dem immer bereit liegenden Topf mit Löffel, um einen Bären mit metallischem Lärm zu vertreiben zu können – das Gegenteil erreichte, hat mich etwas nachdenklich gestimmt. Bei früheren Touren durch die russische Taiga fühlte ich mich mit dieser Vorkehrung immer gut vorbereitet, nun zählte sie nichts mehr...

Lager der Rentierzüchter

Nach der Querung des letzten Naleds folgten wir einem Nebenarm des Suntar, der überraschend klar war. Nach Karte hätte er irgendwann wieder in den Hauptstrom führen müssen, doch schon bald merkten wir, dass wir in einer Sackgasse landeten. Der Flusslauf verjüngte sich immer mehr, wurde irgendwann zu einem Bach und verschwand schließlich als Rinnsal in einem versumpften Auwald. Um da wieder raus zu kommen, blieb uns nichts anderes übrig, als alles rund einen Kilometer durch den Wald zurück zum Hauptstrom zu tragen.
An diesem angelangt, hatten wir auf einmal mit richtigem Hochwasser zu tun. Schritt für Schritt kämpften wir uns am verholzten Ufer der reißenden Strömung entgegen. Wir kamen wirklich sehr sehr langsam voran. Ich kapitulierte als erster und begann mein Boot und das Gepäck am Ufer entlang zu tragen. Dann realisierten wir, dass wir gar nicht mehr auf dem Suntar waren, sondern einen größeren Zufluss, den Koltako, hinaufgingen. Das war aber nicht weiter schlimm, da hier ganz in der Nähe das besagte Lager der ewenischen Rentierzüchter liegen musste. Wir hofften, irgendwann den Pfad zu kreuzen, der uns dort hin führen würde, doch wir fanden keinerlei Spuren. Erst am Abend, als es schon Zeit für ein Nachtlager war, legten wir zufällig an einer bis an den Fluss reichenden Weidefläche an und sahen die Hütte am anderen Ende – in etwa 1 km Entfernung.
Am nächsten Tag packten wir alles zusammen und besuchten die Ewenen. Es gab vier beschauliche Blockhütten an einem Bach, in dem kleine Reste von geschlachteten Tieren lagen. Zwei angebundene Hunde kläfften, es lag einiges an Gerät herum, darunter auch ein paar traditionelle Holzschlitten. An der Haupthütte öffnete schließlich jemand die Tür – zwei ältere Männer waren anwesend. Wir erkundigten uns nach ihrem Befinden und ihren Tieren. Am Abend zuvor weilten hier noch ein paar junge Männer, doch die waren bereits am Morgen mit den verbliebenen vier Rentieren zum See Balja in den Bergen gegangen. Damit war unsere letzte Hoffnung auf ein paar Tragetiere weg, denn auch Pferde gab es hier keine und die Aussicht auf einen nachfolgenden Trek war verschwindend klein. Immerhin konnten wir den Ewenen noch ein paar Lebensmittel abkaufen: Reis, Nudeln, Kartoffelpulver, Fleischkonserven, Zucker, Öl – sie hatten reichlich davon in einem riesigen Lager, gesponsort von der staatlichen Kommission. Das Beste war aber das frisch gebackene Pfannenbrot, das sie uns noch mitgaben – eine wahre Wonne hier draußen!!

Zurück zum Suntar

Am späten Nachmittag verabschiedeten wir uns wieder von den Ewenen und folgten einem einfachen Pfad durch die Taiga zurück zum Suntar. Wir ließen gerade unsere Boote zu Wasser, als wir aus der Ferne ein Motorengeräusch vernahmen. Die Ewenen hatten uns erzählt, dass ein Kettenfahrzeug der Kommission auf dem Weg hierher sei, um die Rentiere in den Bergen zu zählen (rund 2000 wurden diesem Lager zugerechnet, einem Lager weiter westlich weitere 3000). Über Satellitentelefon erfuhren sie, dass das Kettenfahrzeug wegen des Hochwassers am Ugamyt festsaß. Nun hatte es anscheinend doch noch einen Weg zu den Rentierzüchtern gefunden... Gesehen haben wir es aber nicht mehr, auch Menschen trafen wir im weiteren Verlauf keine mehr – während der gesamten Tour sollte dieser eine Besuch abseits unserer Route die einzige menschliche Begegnung bleiben.
Wir treidelten weiter flussaufwärts. Der Wasserstand des Suntar war überraschend niedrig, von Hochwasser konnte hier absolut keine Rede sein. Wahrscheinlich hatte ein Regengebiet nur westlich von uns ordentlich was abgeladen, so dass eben nur die Zuflüsse von dort mehr Wasser führten. Das könnte auch der Grund gewesen sein, dass wir den von Westen kommenden Koltako als Hauptfluss interpretiert hatten und den Suntar als unscheinbaren Nebenarm...
Dennoch war das Treideln nicht einfach. Der Oberlauf des Suntar bekam hier auf 1100 m (in zwei Wochen hatten wir erst 160 Höhenmeter bewältigt) allmählich mehr Gefälle und die Gegenströmung wurde entsprechend stärker. Vor allem beim Überwinden kleiner Schwellen hatte ich mit meinem Packraft mächtig zu kämpfen. Das Boot zerrte an mir, als wolle es keinen Schritt weiter gezogen werden. Robert hatte zwar auch Mühe, gegen den Strom zu gehen, doch sein Boot verhielt sich bei weitem nicht so widerspenstig wie meins. Hier zeigte sich nun endgültig, dass ein Packraft zum Treideln nicht besonders geeignet ist – zumindest bei spürbarer Gegenströmung.

Bootsvergleich Alpacka vs. Drakar

Der Unterschied unserer Boote liegt vor allem in der Konstruktion. Während mein Alpacka Explorer (3 kg) als Packraft konzipiert nur eine Luftkammer besitzt, die den Rahmen des Bootes bildet, hat Roberts Drakar Meridian (7 kg) noch eine zweite Luftkammer in der Mitte, die dem Boot eine schnittige Form und höhere Steifigkeit verleiht. Dieser Mittelschlauch kann auch als eine Art Kiellinie verstanden werden, an der das Wasser beim Treideln viel leichter, ja fast widerstandslos vorbeiströmt. Dadurch ist auch Steuern vom Ufer aus möglich, indem man vorn und hinten ein Seil befestigt, das Boot in der Strömung ausrichtet und neben sich her zieht.
Beim Packraft hingegen sorgt der flache Unterboden für eine Art Unterdruck auf der Wasseroberfläche, so dass sich das Boot regelrecht festsaugt und mit der Gegenströmung entsprechend stärker zurückgezogen wird. Man muss dadurch viel mehr Kraft aufwenden, um es vorwärts zu bekommen. Auch lässt es sich vom Ufer aus oder entlang einer Eiskante nicht so gut steuern. Um es in die gewünschte Richtung zu bekommen, muss man in der Regel vor dem Boot gehen und es direkt nach vorne ziehen.
Ein weiterer Pluspunkt für das Drakar ist auch der geringere Abrieb am Bootsboden, da das Gepäck im Boot beim Ziehen über Schotter oder Eis nicht direkt auf den harten Untergrund stößt – der Mittelschlauch wirkt hier wie ein Stoßdämpfer... Der einfache Boden des Packrafts musste dagegen einiges wegstecken und so verwundert es nicht, dass er nach den Naledpassagen erstmals flächige Abrieberscheinungen aufwies – vor allem dort, wo der mitgeführte Rucksack die meiste Zeit auflag. Später, während der Portage zur Ketanda, kamen hier noch die ersten Löcher hinzu...

Unser Fazit: wenn es bei einer längeren Treidel-Rafting-Tour nur kurze Tragepassagen gibt, wäre ein Drakar insgesamt besser geeignet. Die Stärken eines Packrafts liegen vor allem beim Gewicht und Packmaß – nützlich also, wenn das Boot größere Strecken getragen werden muss. Ansonsten ist aber auch klassisches Rafting mit leichten Wildwasseranteilen kein Problem, nur Treideln bei spürbarer Gegenströmung macht mit einem Packraft weniger Sinn. Treidelt man dennoch mit einem Packraft, dann sollte man das Gepäck gleichmäßig in die Mitte des Bootes verladen. Ich hatte viele Tage den Fehler gemacht, mein Hauptgepäck auf dem Schlauch vorn und hinten zu befestigen – dadurch verschärfte sich noch der Widerstand, weil sich Bug und Heck in die Wellen der Gegenströmung hinein bogen. Um den Abrieb am Bootsboden zu verringern, könnte man zudem noch einen aufblasbaren Sitz unter das Gepäck legen, so dass beim Ziehen über steinigen Grund die Last auf den Boden abgefedert wird.

Rettende Hütte am Nejdagytschan

Nur wenige Kilometer oberhalb des Ewenen-Lagers gerieten wir das erste Mal in einen richtigen Dauerregen. Bei nur noch 5 Grad Lufttemperatur waren wir schon bald durchgeweicht und sehnten uns nach einem trockenen Platz zum Übernachten. An der Mündung des Seitenflusses Nejdagytschan sollte es eine Hütte geben – die Ewenen meinten, dass sie vom Fluss aus nicht zu übersehen sei. Von hier aus würde sich auch eine Besteigung des Palatka (2800 m) anbieten, doch die Zeit dafür war inzwischen zu knapp. Unweit der Hütte sollte es aber noch ein paar sehenswerte Wasserfälle geben.
Als wir am Abend ein auffälliges Seitental mit breitem Schotterbett passierten, tauchte sie endlich auf: die ersehnte Hütte. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, die Wolken lichteten sich und gaben im rot gefärbten Dämmerlicht ein paar frisch verschneite Berggipfel frei, während aus der feuchten Taiga Nebelschwaden emporstiegen – eine fantastische Szenerie! In klammer Kälte schleppten wir unsere Ausrüstung die Flussböschung hinauf und richteten uns in der rustikalen Hütte ein. Niemand war da, es herrschte aber ein Durcheinander, als ob die letzten Bewohner überstürzt aufgebrochen waren und jeden Moment zurückkehren würden. Wir machten ein bisschen Ordnung, fütterten den Ofen mit ein paar Holzscheiten und hingen unsere durchnässte Ausrüstung zum trocknen auf. Wir waren sichtlich froh, unter diesen Umständen eine beheizbare Unterkunft gefunden zu haben...
Auf dem Tisch in der Mitte stapelten sich etliche Kisten mit Proviant und Zigaretten – mit Sicherheit auch ein Beitrag der Kommission. An Lebensmitteln schien es hier nicht zu mangeln und so erlaubten wir uns, noch ein paar Sachen abzuzwacken: einige Packen Nudeln, etwas Mehl und eine Prise Soda – das Pfannenbrot der Ewenen hatte mich inspiriert, es ihnen mal nachzumachen. Da unsere bisherigen Tagesrationen im Vergleich zur erbrachten Leistung recht knapp bemessen waren und wir das schon deutlich zu spüren bekamen (die körpereigenen Reserven waren weg), begrüßten wir es, dass die Mahlzeiten fortan etwas üppiger ausfallen konnten...

Den Oberlauf hinauf

Am nächsten Tag gab es herrlichen Sonnenschein und der Neuschnee in den Bergen taute wieder ab – perfektes Wetter für eine Wanderung. Da aber der Nejdagytschan gerade kein Wasser führte, sahen wir nun auch von einem Besuch der Wasserfälle ab und gingen wie gehabt den Suntar weiter aufwärts. Das Wasser war hier richtig klar – man konnte wieder sehen, wohin man tritt. Hin und wieder zeigten sich auch noch ein paar Eisfelder, aber keines blockierte mehr, man kam immer problemlos durch. Nur der grobe, teils rutschige Flussbettschotter und die weiterhin recht kräftige Gegenströmung ließen uns noch etwas schleppend vorankommen – rund 7 km betrugen jetzt die Tagesetappen.
Da wir nun treidelnd die meisten Höhenmeter machten, gab es immer wieder strömungsstarke Stellen, an denen ich mit meinem Packraft keine Chance hatte und mich entschied, Gepäck und Boot vorübergehend am Ufer entlang zu tragen. Robert war meist schon weit vor mir und musste wiederholt eine längere Pause einlegen, damit ich aufholen konnte. Tatsächlich war Laufen im Schotterbett mitunter schneller, als Treideln, so dass ich schon nahe dran war, das Boot endgültig einzupacken. Doch die Schlepperei der nun wieder etwas schwereren Rucksäcke war mir dann auf Dauer auch nicht genehm und so blieb ich beim Treideln mit kurzen Portagen – so lange es der Fluss erlauben würde.
Mit jedem Tag verengte sich das idyllische Tal mehr und mehr. Das Ende war schon erkennbar, als uns an einem verlassenen Lagerplatz der Ewenen noch einmal ein kalter Dauerregen für zwei Nächte festhielt. Die letzten Kilometer auf dem Suntar vergingen dann recht fix – noch bevor wir es richtig realisierten, standen wir in einem Bach und wenig später an dessen Quelle. Da der Hauptlauf des Suntar zu flach und steinig wurde, sind wir einen schmalen, aber tieferen Nebenarm hochgegangen, der nun vorzeitig endete. Das Seitental des Choron, welches uns zum Pass hinauf führen würde, war aber nicht mehr weit, also packten wir endgültig unsere Boote ein und gingen zu Fuß weiter. Nach nunmehr drei Wochen entlang des Suntar endete hier unsere Treideletappe auf einer Höhe von 1400 m (3 Tage Anmarsch, 16 Tage Treideln plus 2 Pausentage, einmal wegen Krankheit, einmal wegen Dauerregen).

weiter zum Teil 3: Passgang zum Nitkan...

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