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Auf Eispisten entlang des gefrorenen Ob...
Tagebuch einer Winterradtour durch Westsibirien

Anreise

[5. Tag - 9. 3. 2008]  Mit dem Zug durch Russland, das ist wahrhaftig entspanntes Reisen, sofern man von den schweißtreibenden Umstiegen mit 85 kg Gepäck mal absieht: Man liegt rum, trinkt Tee, isst ab und zu was und schaut aus dem Fenster auf malerische Landschaften. Und wenn die Abteilnachbarn einem wohlgesonnen sind, hat man auch noch nette Gesellschaft, ein spendiertes Bier und die eine oder andere dazugelernte russische Vokabel. Als einziger Ausländer im Platskartnyj Vagon hab ich obendrein noch den Exotenbonus, mit einem Fahrrad im Gepäck sowieso, da kam diesmal sogar die zweite Waggondame mit einem Gästebuch an, welches ich mit einem Gruß auf deutsch versehen sollte.
Fantastisches Winterwetter herrscht hier bereits im europäischen Landesinneren, schätzungsweise 30 und mehr Zentimeter Schnee verhüllen die Wälder und Dörfer in ein echt russisches Wintermärchen, dazu endlich permanenter Frost bei strahlendem Sonnenschein, das macht Laune auf den bald beginnenden Fahrradritt, zumal der trockene Frost hier schon mal angenehmer ist, als die feuchten 0°C von St. Petersburg. (9.3. 18.35 Uhr)

[6. Tag - 10. 3. 2008]  "Zima choroscho - musor nje vidno" (wörtlich: "Winter gut - Müll nicht sichtbar"), das war der Kommentar eines Mannes aus Novyj Urengoj zum positiven Aspekt des westsibirischen Winters, aufgeschnappt quasi letztens, als ich mit dem Zug Jakutien verließ... Dennoch, die halb verfallenen, halb intakten Betonwüsten einiger Stadtgebiete verschönert der Winter kein bisschen, im Gegenteil: durch das fehlende Grün, das sonst einen Großteil solch typisch russischer Stadtansichten verdeckt, wirken die Städte noch trister, als ich es bisher gewohnt war. Seit Ekaterinburg, auf dem nun eingeschlagenen Nordkurs östlich des Urals, scheint auch noch eine Menge Industrie dazuzukommen. In Nizhnij Tagil qualmte es aus unzähligen Schloten in verschiedenen Farben: rostbraun, graublau und grau, dazwischen eine flackernde Flamme, ganz dem Klischee einer westsibirischen Erdgasförderung. Aber auch dazwischen viel aufgewühlte Erde, eisfreie Lorken und aus dem Boden gestampfte Betonblocksiedlungen... Wenn das Westsibirien ist, kann ich nur hoffen, dass ich entlang des Ob nicht viel davon sehe, Industrie dürfte es auf der geplanten Fahrradstrecke eigentlich keine mehr geben, kleine Fischerdörfer erwarte ich, aus Holz und idyllisch verschneit.
Fantastisch angezuckert waren heute auch die Kiefern kurz vor Ekaterinburg. Begrüßt wurde ich mit einem hübschen Eisnebelhalo an der aufgehenden Sonne, naja, eigentlich alle, aber wer von den Mitreisenden registriert denn schon sowas... Auf dem Bahnhof in Ekaterinburg war dann wieder mal stundenlanges Rumsitzen angesagt, Rad zusammensetzen und zerlegen konnte ich mir diesmal ersparen, wobei man dann ständig an einem Fleck bleiben muss und nicht mal schnell was einkaufen kann, auch wenns nur um die Ecke ist, das wäre zu riskant. Allein für den kurzen Klobesuch hab ich zur Sicherheit das ganze Gepäck bis an die Tür geschleppt, wo es dann nicht mehr ganz so weit weg außer Sichtweite war. Den kleinen Rucksack mit allen wichtigen Unterlagen und den Fotoapparaten hatte ich zudem immer dabei, hätte also im Ernstfall auch ohne das ganze andere Gepäck wieder zurück nach Hause gefunden.
Zwischendurch in der Halle bei den Fahrkartenschaltern begegnete mir mal wieder jemand, dem etwas Geld für seine Fahrkarte fehlte, hat mir auf die stumme Tour nen Zettel vor die Nase gehalten, auf welchem ich "30 Rub" und "Bilet" entziffern konnte, gab ihm dann sogar 50 Rubel, da ich nur 20 klein hatte, freute mich noch, dass er sich für den Obulus in Dankesgeste halb verbeugte, um kurz darauf festzustellen, dass das Ganze nur ein Trick war, um Geld zu erbetteln, denn ein Ticket kaufte er nicht, sondern verschwand einfach aus der Halle, um ein oder zwei Stunden später die nächsten zu veräppeln. So ähnlich wird es wohl auch in St. Petersburg gewesen sein, wo ich dämlicher Kerl sogar aus freien Stücken 300 Rubel auszulegen bereit war und am Ende ohne Dank 500 (rund 14 Euro) losgeworden bin... (10.3. 20.40 Uhr)

Priob'e - Berezovo

[7. Tag - 11. 3. 2008]  Hübsch kalt war es heut Morgen: kurz nach Sonnenaufgang beim Halt in Verchnekondinskaja zeigte mein Thermometer beim obligatorischen Marsch neben dem Zug -20,5°C an! Dass es auf dem Nordostkurs doch noch einen so schnellen Absacker geben würde, hatte ich ja kaum noch für möglich gehalten. Bei Ankunft in Priob'e waren es immer noch -10°C, die sich aber im windstillen Sonnenschein anfühlten wie 0°C, so dass ich erst nach der Temperaturmessung präventiv mehr Sachen angezogen habe.
Als ich dann zwei Stunden später endlich startbereit war, hab ich mich als erstes auf die Suche nach einer Telefoniermöglichkeit gemacht, im sogenannten "Peregovornyj Punkt" sollte es laut Auskunft meiner Zugabteilnachbarin eine solche geben. Ich musste mich ein wenig durchfragen, auch im Telefonpunkt selbst, da ich wieder mal mit dem Nummernsystem nicht klar gekommen bin. Geklappt hat es dann am Ende doch, ein Glück, denn zu Hause macht man sich wie immer höllische Sorgen, nach all den Jahren noch immer wie bei meinem ersten Solo-Trip, vor allem weil es wieder Russland ist, nicht etwa, weil es hier um diese Zeit noch recht kalt sein kann... Wie dem auch sei, die nächste Meldung wird wohl erst wieder in Salechard bzw. Labytnangi möglich sein, was 20 Tage dauern könnte und auch dann nicht unbedingt erfolgreich sein muss.
Wie erwartet war es schwer, den Anfang der (richtigen) Winterstraße zu finden, bin im Kreis durch den Ort gefahren und schließlich wieder zurück, musste etliche Leute fragen, die alle etwas anderes erzählten oder eben so viel, dass ich nicht mehr herausfiltern konnte, welche Information nun die für mich wichtige war... Gefahren bin ich am Ende trotzdem nach Nase und Blick gen Ob und hab ihn schließlich gefunden, den Abzweig in die gefrorenen Sümpfe der Ob-Aue, ein Schild weiter drinnen gab die Bestätigung, dass ich auf genau der Winterpiste gelandet bin, die ich fahren wollte. Der "Zimnik", so bezeichnen die Russen den nur im Winter (Zima) befahrbaren Weg, zeigte sich bisher in einem überraschend guten Zustand, wurde auf breiter Fläche vom Schnee befreit und durch die relativ hohe Frequentierung zu einem nur teilweise löchrigem Eispanzer festgefahren und sieht daher aus, wie eine schlecht geräumte skandinavische Hauptstraße.
Bei der Nachtplatzsuche hatte ich allerdings so meine Probleme, da man hier überall abseits der Piste oberschenkeltief in den Schnee einbricht, hab gleich hinter dem Schneewall an der Straße mein Lager aufgeschlagen, alles andere wäre sinnlos vergeudete Müh'. Da kam es mir ganz entgegen, dass der heutige Abend nur milde -6°C zu bieten hatte, denn bis ich mich wieder in die Routine am Lagerplatz eingefuchst habe, werden wohl noch ein, zwei Tage vergehen. Vor allem die Jacke-Hose-Schuhwechselei bei Ankunft muss klar definiert sein, sonst ist man ständig mit an-, aus- und umziehen beschäftigt oder vielleicht schon ausgekühlt oder gar nass, wie heute beinahe, wenn ich ohne Gamaschen (und Regenhose) durch den Schnee abseits der Piste gestapft wäre... (11.3. 22.40 Uhr)

[8. Tag - 12. 3. 2008]  Dauerschneefall gabs heute, sozusagen sibirisches Sauwetter, hat mir die Sicht auf Landschaft und Piste genommen, Schlaglöcher waren tückisch verweht, Schneeflocken flatschten mir in die zugekniffenen Augen, trotz fehlender Sonne ein blendendes Weiß, manchmal ohne Horizont, wollte mir die Sonnenbrille aufsetzen, doch die war nun tatsächlich mal kaputt gegangen... Gleich dreimal hab ich mich auch noch gelöffelt, weil ich unvermittelt in konturlose Spurrillen abrutschte. Schlaglöcher, ähnlich wie auf einer schlechten Schotterpiste, gab es abschnittsweise dann doch ganz heftig, vorwiegend jedoch dort, wo die Eispiste scheinbaren Bodenkontakt hatte, auf eindeutigen bzw. größeren Wasserflächen war die Piste nämlich wunderbar eben.
Der Verkehr wie auf einer normalen Landstraße: Lkw, Pkw und Taigatrommeln (russische Kleinbusse), angehalten haben etliche, begrüßten mich fröhlich staunend mit dem obligatorischen "otkuda? kuda?" (woher? wohin?) oder hupten bloß im Vorbeifahren mit erhobenem Daumen. Zwei Lastwagenfahrer wollten mich gar ein Stück mitnehmen, bis nach Peregrebnoe, dem nächsten Ort, doch ich lehnte ab, bin ich doch extra hergekommen, um die Strecke mit Rad zu fahren, solange es nicht zu übel wird mit Piste, Technik oder dergleichen... Bei diesen Begegnungen fühlte ich mich wieder sehr an Jakutien erinnert, die Menschen in Sibirien sind halt gleichsam aufgeschlossen und hilfsbereit, nicht alle, aber eben ein auffällig großer Teil.
Peregrebnoe liegt nun direkt vor mir, auf der anderen Seite des Ob. Wird die Piste nun auf dem Fluss weitergehen und fahrbar bleiben, oder muss ich vielleicht über Igrim und Berezovo weiter nach Norden? Immerhin: es gibt Ausschilderungen und auch sonst überall Verkehrsschilder, doch man sagte mir heute, der Zimnik auf dem Ob sei in einem schlechten Zustand. Ich werds morgen sehen, denn mein Favorit bleibt der Ob, welchen ich gerne bis Salechard abradeln würde. (12.3. 23.50 Uhr)

[9. Tag - 13. 3. 2008]  Der erhoffte Zimnik auf dem gefrorenen Ob existiert nicht mehr oder nicht hier, so schien es, als ich trotz einiger Andeutungen vorbeifahrender Anwohner bis an den Rand des Ortes Peregrebnoe fuhr, dabei den Ob entlang der geräumten Passage querte, doch keinen Hinweis entdecken konnte, der auf eine Fahrstrecke längs des Flusses deutete... Da stand ich nun und überlegte schon, nach Belojarskij weiterzufahren, da dieser Ort zumindest direkt ausgeschildert war und somit zweifelsfrei zu erreichen wäre, doch wie dann weiter? Möglicherweise gibt es von dort eine Piste zurück zum Ob, aber was, wenn nicht oder nicht geräumt und wenig frequentiert? Dann bliebe mir nur noch die Strecke quer durch Westsibirien bis Novyj Urengoj, wo ich theoretisch auch rechtzeitig die Bahn für die Rückfahrt erreichen könnte. Vieles ist möglich, zumal es in jeder Variante den Reiz des Unbekannten gibt, doch geplant ist nun mal die Bewältigung der Zimnik-Strecke entlang des gefrorenen Ob bis Salechard/Labytnangi, die bei eventuell verbleibendem Zeitpuffer noch durch eine finale Querung des Polar Ural erweitert werden könnte.
Nach 20 min des Abwägens entschied ich mich schließlich für die Alternativstrecke über Igrim und Berezovo, die immerhin in Obnähe nach Norden führt, etliche Dörfer mitnimmt und ab und zu auch mal durch richtigen Taigawald führt, denn die offenen schutzlosen Sümpfe sind nicht gerade das, was man sich unter Sibirien vorstellt, fühlte mich oft an die Elbtalaue und die Poldergegend des Havellandes erinnert, ziemlich öde für meinen Geschmack.
Derweil hat es sich heute mal wieder richtig eingeschneit, im Prinzip Dauerschneefall seit zwei Tagen, da hätte ich auch auf dem Ob sicher keine Freude gehabt, zumal der Flockenwirbel mit einem zugigen Nordwind einherging. Bei gleichzeitig abfallenden Temperaturen war der Nordwestkurs Richtung Igrim ein sehr ungemütlicher Akt, bei dem die krümeligen Schneeflocken wie Splitter in die Augen gedrückt wurden, so war es zumindest bis zum Beginn des ersten richtigen Waldes, denn letzterer bot so unvermittelt Schutz und Geborgenheit, dass ich Kälte und Strapazen glatt vergaß. Doch auch hier hatte der Schneefall für neue Hindernisse gesorgt: Spurrillen, streckenweise recht tief und so schon kaum zu fahren, waren nun auch noch mit mehr und mehr Schnee gefüllt, so dass ich für eine Weile zu Fuß gehen musste, um nicht ständig auf die Nase zu fliegen. Auch auf ebenen Flächen macht der Neuschnee das Fahren mittlerweile schwierig, da hoffe ich nur, dass es mal bald aufhört, dieses Sauwetter... (13.3. 23.40 Uhr)

[10. Tag - 14. 3. 2008]  Knackig kalt ist es geworden, so ziemlich plötzlich, obwohl die gestrige Temperaturtendenz während des Schneefalls schon vermuten ließ, dass ein recht kaltes Luftpaket aus Norden heranfließt. Bei der Kälte hatte sich das Zelt über Nacht in eine Eishöhle verwandelt: sobald man irgendwo anstieß, schneite es Eiskrümel von der Zeltwandung. Mühselig waren die Arbeiten des morgendlichen Zeltabbaus und Kochens, da mit Fäustlingen nichts auszurichten war und mit Fingerhandschuhen immer wieder Pausen eingelegt werden mussten, um die Hände aufzuwärmen. Kleine Handgriffe dauerten unter diesen Bedingungen Stunden, so dass ich trotz zeitigen Aufstehens erst sehr spät los gekommen bin.
Auf der Piste wusste ich zu Anfang nicht so recht, wie ich nun eigentlich fahren sollte bei -18 bis -19°C (die tiefste Höchsttemperatur und zugleich Radeltemperatur, die ich je erlebt hatte), ob mit dicker Jacke oder winddichter Regenjacke, ob mit oder ohne Schneehose, ob mit Winter- oder Wanderschuhen? Doch nach einigen Minuten Fahrt wurde mir selbst bei dieser Kälte so warm, dass ich alle Winterklamotten ablegte und weiter wie bisher fuhr. Selbst in den zu Eisklump gefrorenen Wanderschuhen ließ es sich aushalten, so lange ich in Bewegung blieb.
Die zerfurchte Waldpiste blieb zum Glück nicht lange erhalten, an einer Kreuzung nach nur 3 km traf sie als Nebenstraße auf eine Hauptstraße und sollte für den Rest des Tages recht gut befahrbar bleiben. Seit Igrim geht es auf dem gefrorenen Fluß Severnaja Sos'va weiter gen Norden. Gleich hinter dem Ort war sogar das erste Mal Salechard ausgeschildert (530 km...)! (15.3. 9.25 Uhr)

[11. Tag - 15. 3. 2008]  Die kälteste Nacht meines Lebens!!! Auf -37°C fiel die Temperatur, über Schnee sogar auf krasse -42! In Salechard waren es nach Aussage eines Autofahrers sogar -45°C, in einer standardisierten Wetterhütte wohlgemerkt (meinte wohl das Winterminimum...). Der Vormittag war jedoch richtig angenehm, denn es herrschte Windstille und die Sonne ballerte, da kam es mir bald wie 0 Grad vor. Auf der Fahrt hatte ich dann sogar noch leichten Rückenwind, so dass ich trotz -18 bis -20°C nur mit der Faserpelzjacke gefahren bin, allerdings mit einer "Obdachlosenzeitung" unterm Pullover, damit Bauch und Brust nicht auskühlen. Ein fantastisches Fahrgefühl, zumal die Piste auf der gefrorenen Sos'va auch Geschwindigkeiten von 15 km/h zuließ. Eine herrliche Stimmung lag über der sonnendurchfluteten weißen Ebene, genau so hatte ich mir die Tour vorgestellt.
Abends radelte ich noch bis in die Dunkelheit, auf der Suche nach einem schicken Lagerplatz, der Halbmond leuchtete mir den Weg. Gefunden hab ich dann auch was mit hübschem Blick auf den Fluss und die Lichter von Vansetur am gegenüberliegenden ziemlich weit entfernten Ufer. Ich entschied mich ohne Zelt zu übernachten, aus pragmatischen Gründen, da das Zelt auf- und abbauen mit seinen unzähligen Handgriffen bei dieser Kälte einfach viel zu lange dauert. Cirren sind aufgezogen, vermutlich wird es nicht mehr so kalt... (16.3. 8.10 Uhr)

Berezovo - Azovy

[12./13. Tag - 16./17. 3. 2008]  Nach zwei Tagen Sonnenschein kam schon wieder der nächste Schnee, diesmal mit starkem Wind, zum Glück von hinten, so dass ich trotz unwirtlicher Bedingungen auf der anfangs noch recht gut fahrbaren Piste schnell gen Berezovo vorangekommen bin. Schneewehen in den Sumpfebenen und sich stapelnder Neuschnee im windgeschützten Wald erschwerten jedoch zunehmend die letzten Kilometer zum Ort.
Etliche Leute hielten wieder, davon einer kurz vor Berezovo. Auf meine Frage nach einem Internetzugang lotste er mich in den Ort und zu einer Pizzeria, wo ich von seinem Kumpel Sergej erst einmal fett eingeladen wurde: eine warme Mahlzeit, eine Suppe und obendrein noch ein paar Stücken Pizza, ich kam mir vor wie Gott in Frankreich, zumal ich nach den harten Entbehrungen der letzten Tage kaum noch was auf den Rippen hatte. Unerträglich war jedoch die Hitze im beheizten Restaurant, meine Nase, tagelang dem Frost ausgesetzt, fing regelrecht an zu glühen, gerötet war das Gesicht an den permanent unbedeckten Stellen, verschwitzt legte ich all meine Sachen ab und entblößte erstmals nach einer Woche meine total zerzauste Rübe... Und dann schleppte Vladimir, der mich hier her gelotst hatte, noch eine Fernsehkamera an, um den durchgeknallten Germani zu filmen, wie er sich bei einem Vorab-Interview den Wanst vollschlägt... Ein Glück, dass es nur das Lokalfernsehen ist, dachte ich, in der Zivilisation will ich mich eigentlich erst wieder in einen Menschen verwandeln, ehe ich so öffentlich unter Leute gehe. Die Gelegenheit hatte ich dann auch, in der 3-Familien-WG von Sergej, wusch nicht nur mich, sondern auch alle kontaminierten Sachen, so dass ich das eigentliche Interview am nächsten Tag mit einem besseren Gefühl angehen konnte.
Zum Schreiben einer Elektropost kam ich auch erst am Folgetag, zeigte bei der Gelegenheit auch gleich meine erst zweieinhalb Monate alte Webseite und warf noch einen Blick auf das Wetter der kommenden Tage. Es scheint erst mal trocken und kalt zu bleiben, das ist gut, denn der reichlich gefallene Neuschnee auf der an sich schon unnormal hohen Schneedecke kann das Fahren auf den Zimniks gänzlich unmöglich machen. Bis nach Tegi hatte man aber schon wieder alles freigeräumt, so dass ich mit leichtem Rückenwind wieder richtig fix vorangekommen bin. Doch ab hier ist ein Vorankommen nur noch zu Fuß möglich, typisch für Russland: über eine administrative Grenze sind die Wege immer schlecht, im Sommer wie im Winter. Der erste Ort im Bezirk der Jamal-Nenzen ist etwa 50 km weit, also mindestens zwei Tage, es sei denn, ein Fahrzeug findet sich, das mich mitnimmt, was allerdings lange dauern könnte, denn seit Berezovo fährt kaum noch was auf der Piste.
Angebracht wäre es jedenfalls, seit einer Kabelreparatur ohne Handschuhe vor zwei Tagen haben sich die Mittelfinger entzündet, kurioserweise an beiden Händen der gleiche, seit einem Sturz hinter Tegi nun auch das rechte Handgelenk, damit lässt sich schon mal schwierig werkeln, ein 80 kg-Fahrrad zwei oder drei Tage durch den Schnee würgen macht das Problem sicher nicht besser... (18.3. 9.55 Uhr)

[14. Tag - 18. 3. 2008]  Schirgen war angesagt, daran bestand für mich ja kein Zweifel, so hab ich diesen Umstand recht gelassen entgegengenommen, wahrscheinlich zu gelassen, denn 20 km als Tagessoll zu Fuß wurden zum Sonnenuntergang immer mehr zur Utopie. Schuld daran war zweifellos das fantastische Halophänomen, welches quasi den ganzen Tag den Himmel schmückte und mich immer wieder anhalten und fotografieren ließ. Ziemlich spät gestartet bin ich auch, da die Entzündung am rechten Handgelenk schnell fortgeschritten war und die Lagerarbeit zu einer mühseligen Qual machte. Die Schirgerei durch den Schnee ging noch irgendwie, es sei denn, das Rad kam mal ins Schlingern, vor allem beim Abwärtsrollen in kleine Mulden oder bei kurzen Fahrversuchen, da musste ich so einige Male verkrampft das Gleichgewicht halten, was sehr schmerzhaft war. Dennoch, ich war motiviert, den Drei- oder Viertagesmarsch bis zum nächsten Ort, wo der Zimnik theoretisch besser werden könnte, auf mich zu nehmen, Hauptsache vorwärts, dachte ich mir, zumal tatsächlich kaum Fahrzeuge mehr auf diesem Abschnitt verkehrten, die letzten irgendwann in der Nacht und tagsüber nur noch Schneemobile und Pferdeschlitten aus Tegi.
Doch am Nachmittag kam dann doch mal eine "Maschina" vorbei, die hielt auch prompt und man fragte mich ohne mein Zutun, ob ich wegen des schlechten Weges nicht mitgenommen werden wollte... Natürlich hab ich eingewilligt und ruck zuck waren Rad und Gepäck auf der Ladefläche des von Tjumen' nach Salechard zu überführenden Kleintransporters. Die Fahrer waren nette Kerle, wir haben viel geplaudert und die Möglichkeit offen gelassen, uns in Salechard vielleicht nochmal zu treffen. In Azovy, dem ersten Dorf auf der Strecke, welches weiter weg war, als ich annahm (von Il'jagort war nichts zu sehen und an Poslovy führte die Piste vorbei), ließ ich mich schließlich rauswerfen, zur Verwunderung der Fahrer, denn die Piste war immer noch nicht geräumt, doch immerhin schon in einem augenscheinlich fahrbaren Zustand.
Die Sonne ging gerade unter, so dass ich mich gleich hinter dem Ort nach einem Übernachtungsplatz umgeschaut hätte, doch soweit kam es nicht, denn als ich noch dabei war, mein Rad zu bepacken, traf ich Ruslan, der auf seinem Motorrad gerade vor sein Haus rollte. Und nur weil ich ihn nach einem "Magazin" fragte, obwohl ich eigentlich nicht wirklich was benötigte, kam es dazu, dass ich zwecks Einkauf erst einmal mein Rad bei ihm abstellte und kurze Zeit später zu einem Tee eingeladen wurde. Da es schon dämmerte, hatte ich schon so eine Vermutung, dass man mir für die Nacht auch Obdach gewähren würde und so war es auch... In Tegi wäre ich wahrscheinlich auch untergekommen, hätte ich die Einladung zum Tee nicht ausgeschlagen, denn auch da dämmerte es schon.
Mit Ruslan hatte ich mich jedoch schnell angefreundet, bald darauf auch mit seinem Vater und seinem später eintreffenden Onkel Viktor, mit denen ich noch einen richtig lustigen Abend erlebte: mit jeder Menge leckerem Essen, zubereitet von der Mutter, einer Chanty, und einem echt sibirischen Banjabesuch, wo es auch mal bei -16°C raus ging, um sich mit Schnee abzureiben... Solche Erlebnisse machen die Reise unvergesslich und einmalig, ja genau zu dem, was sie am Ende ausmacht. Das ist Sibirien im Winter, hautnah in allen Facetten, ein Einblick, der auch hinter die Kulisse geht und meine Faszination für dieses Land noch mehr vertieft. (19.3. 9.50 Uhr)

Azovy - Salechard

[15. Tag - 19. 3. 2008]  Regelrecht betteln musste ich, um meine Gastgeber zu überzeugen, dass ich die Weiterreise nach Salechard trotz schlechter Wegezustände mit dem Rad antreten würde, wiederholten sie doch immer wieder, ich könne bzw. sollte das Rad in Viktors Auto laden und mit ihm nach Salechard fahren, dann hätte ich 10 Tage Zeit, mir mit ihm die Kante zu geben und auf dem Ob etwas Eisangeln zu praktizieren... Auf jeden Fall bin ich eingeladen, sobald ich die Stadt erreiche, das Eisangeln wollen wir nachholen, da werde ich vielleicht zwei Nächte einplanen, ehe es nach Labytnangi oder gar Charp weiter geht.
Die Piste ab Azovy war immer noch nicht geräumt, aber immerhin fahrbar, spätestens ab dem Abzweig Gorki sogar wieder recht gut. Nach der letzten Überquerung des Kleinen Ob gab es dann auch Hinweise auf ein Vordringen des Räumkommandos. (20.3. 7.30 Uhr)

[16./17. Tag - 20./21. 3. 2008]  Knackig kalt war die erste Nacht hinter Azovy, mit -36°C ganz dicht an der bisher kältesten Nacht mit -37°C, und ich hab auf einer freien Fläche unter freiem Himmel gepennt, ganz bewusst, um mal direkt zu testen, ob es sich mit meiner Schlafsackkombi auch unter solchen Extrembedingungen aushalten lässt, zumal es relativ windstill war... Mehr gefroren als sonst hab ich nicht, von daher also kein Problem, unter Umständen auch bei -40°C ohne Zelt zu übernachten, sofern es windstill ist. Allerdings vereist die Atemöffnung um das Gesicht herum deutlich stärker, als bei höheren Temperaturen, die Nase muss geschützt werden, weshalb ich mir bei Freilandübernachtungen immer eine Räubermaske überziehe...
Nach dieser zweitkältesten Nacht der Tour blieb es auch den ganzen Tag über mit -20°C recht kalt, wegen der permanenten Windstille jedoch ganz anders empfunden, so dass ich bei Pausen, ja sogar bei einem halbstündigen Nickerchen am Rad nicht ins Frieren gekommen bin, wohlgemerkt ohne Zusatzkleidung. Trotz der Kälte war es so einer der angenehmsten Radeltage, dazu auch noch durch eine herrliche Stille mit wieder reizvolleren Landschaften in einem wunderbaren Licht - besser könnte es auf einer Wintertour kaum zugehen.
Als die Nacht hereinbrach, wurde es wieder rasch kalt: -31,4°C wurden erreicht, während mir der Fast-Vollmond am noch klaren Himmel den Weg leuchtete, ein neuer Radeltemperaturrekord! Trotz Aussicht auf eine Nacht mit -40°C oder kälter, verzichtete ich wieder auf das Zelt, es war schon spät und der Aufbau hätte mit den ramponierten Pfoten ewig gedauert. Letztendlich wurde es aber gar nicht so kalt, denn schon bei Ankunft zogen Schleierwolken auf, die sich über Nacht verdichteten und die Temperatur bis zum Morgen auf -20°C ansteigen ließen. Dumm nur, dass es auch schon nachts anfing zu schneien, lag ich doch ohne Schutz einfach so draußen, da hätte ich wohl doch besser das Zelt aufgestellt...
So folgte auf einen der schönsten sogleich einer der miesesten Tage, denn der Neuschnee hatte die an sich gute Piste wieder total versaut, dass ich nur mit Mühe die Spur halten konnte und so oft, wie noch nie im Leben, auf die Schnauze geflogen bin. Geflucht und gemeckert hab ich, bis sich das Wetter erbarmte und wieder die Sonne herausschickte, die mir für den restlichen Tag eine fantastische Lichtstimmung bescherte, umrahmt von etlichen Lichtsäulen in den Schneefallresten der sich auflösenden Wolken, da hat mich die üble Piste zum Ende des Tages kaum noch gestört, war ich doch abgelenkt und erfüllt von den vielen Eindrücken, die der Tag auf mich und dem Film hinterlassen hat.
Am Abend dann wieder Ernüchterung: der Rotz hat mich erwischt, und das auf einer Wintertour... Etwas zu lange rumgeeiert hab ich beim Zeltaufbau, weil ich im Mondschein bei unter -20°C ewig gebraucht hab, um das Gestänge einsatzbereit zu kriegen, denn seit dem letzten Zeltaufbau vor genau einer Woche hat sich der Gummizug im Gestänge aus unerfindlichen Gründen um etwa 10 cm verlängert (durch den Wechsel warm - kalt ???). Mir wurde richtig kalt und die sonst nur tropfende Nase war auf einmal dicht und ist nun stets und ständig am suppen...
Damit ist die Zahl der kleinen Gebrechen weiter angestiegen: zuerst die zwei Finger, dann das rechte Handgelenk, nun die Erkältung und vor allem die Nase, die sich zur Zeit anfühlt, als hätte ich mir einen ordentlichen Sonnenbrand weggeholt, sich seit zwei Tagen pellt und auch schon ohne Rotz so ziemlich wundgerieben war, also jetzt erst recht. Und mit der Blase scheint auch nicht mehr alles in Ordnung zu sein, muss nachts neuerdings dreimal raus, um zu pissen, bei der Kälte nicht gerade ein Vergnügen... Im winterlichen Skandinavien vor vier Jahren ging es mir ähnlich, da dachte ich aber, das Problem hinge mit dem Schwarztee zusammen, den ich in der zweiten Woche vorwiegend trank. Am Ende der Tour, nach zwei Wochen, hatte ich damals das Gefühl, mich ganz schön runtergewirtschaftet zu haben und war froh, dass der kräftezehrende Akt endlich zu Ende ging. Auf dieser Tour hatte ich dieses Gefühl erstaunlicherweise noch nicht, obwohl die Bedingungen viel extremer sind und die "kleinen Gebrechen" viele Handgriffe zur Tortur machen, doch der Rotz verdirbt mir jetzt ein wenig die Laune, mit dem selben Enthusiasmus weiterzumachen.
150 km sind es noch bis Salechard, je nach Wegezustand und Wetter könnten das noch 3 bis 5 Tage sein. Mitnehmen lassen will ich mich eigentlich nicht mehr, zumal die Strecke seit Azovy richtig spannend geworden ist. Außerdem folgt bald der einzige Streckenabschnitt, der direkt auf bzw. am Großen Ob entlang führt - den will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. (22.3. 11.00 Uhr)

[18. Tag - 22. 3. 2008]  Extrem spät ging es heute los, einerseits wegen des Tagebuchnachtrags der letzten zwei Tage, andererseits wegen des Zeltabbaus und der Erkältung, die mich jeden Handgriff noch langsamer umsetzen ließ... Auf der Piste fühlte ich mich dann wieder halbwegs fit und auch das Suppen der Nase setzte mal für eine Weile aus. Fantastisches Wetter war, der Wind blieb den ganzen Tag über still. Die Piste fuhr sich wieder einigermaßen, führte mich aber dennoch nicht an das 30 km-Tagessoll. Dafür hab ich den Umständen meiner Erkältung entsprechend einen riesen Glückstreffer zwecks Übernachtung gelandet: eine urige Jagdhütte am Rande eines nordischen Fichtenwaldes - einfach herrlich! (22.3. 24.00 Uhr)

[19. Tag - 23. 3. 2008]  Verwöhnt hat mich das Wetter wieder einmal, richtig gediegen ging es voran, nicht besonders weit, doch wen störts, hab ja genug Zeit... Zweimal angefleht hat man mich, in einem Laster mitzufahren, in nur 3 Stunden wäre ich in Salechard, leicht fiel es mir diesmal nein zu sagen, denn das Wetter war schön und die Piste gut, außerdem wäre dann ja die Tour auf einen Schlag vorbei, es sei denn ich radle noch gen Polar Ural. Einen ersten Blick auf die ferne Kulisse der verschneiten Gipfel konnte ich bereits erhaschen, über dem flachen Horizont des Schuryschkarskij Sor, da bekomme ich doch schon etwas mehr Lust, wenigstens bis Charp weiterzuradeln, am Besten bis Eletskij, doch dafür ist die Zeit ganz sicher zu knapp. (24.3. 7.50 Uhr)

Salechard - Polar Ural

[20.-23. Tag - 24.-27. 3. 2008]  Jetzt hab ich schon einige Tage nichts mehr kommentiert, ein Zeichen dafür, dass es ständig etwas hektisch zuging... Recht unspektakulär verlief der letzte Tag auf den Zimniks entlang des wieder vereinten Ob's, es gab keine Dörfer und keine besonderen Landschaften, zumindest nichts, was mir noch nicht vertraut war, es gab meine Piste, die in einem guten Zustand war, herrlichen Sonnenschein und Rückenwind, so dass ich glatt bis Labytnangi durchgebrettert bin, 73 km waren es am Ende, mit Abstand die größte Tagesetappe dieser Tour.
Wolken zogen zum Abend hin auf und ich wusste, dass es wohl schon nachts neuen Schnee geben würde, doch gepennt hab ich unter freiem Himmel, weil sich das Zeltgestänge mal wieder nicht zusammenstecken ließ, die Kälte hatte den Gummi weiter ausnuddeln lassen. Und da ich keine Lust hatte, das Ganze wieder bei Dunkelheit zu reparieren, hab ich mich freiwillig einschneien lassen... Gut, dass ich schon nah an der Zivilisation war, brauchte ich doch früh nur schnell einpacken, Kochen war nicht notwendig, in Salechard würde ich schon mein Frühstück nachholen können.
Die Passage an das andere Ob-Ufer kam dann tatsächlich erst an der Stelle, wo im Sommer die Fähre verkehrt, so musste ich quasi zurück nach Süden fahren, um in die Stadt zu gelangen. Einen hübschen Blick auf die ganze Ob-Biege hatte man von der 100 m-Anhöhe, die es zuvor noch zu überqueren galt, ich konnte im nachlassenden Schneefall zumindest erahnen, was man hier bei schönem Wetter für einen tollen Ausblick hat.
Salechard war ein langer Abstecher, den ich wohl weggelassen hätte, wäre ich nicht von Viktor zu einem letzten Besuch eingeladen worden. Mein Hauptziel war also, die Bleibe von Viktor zu finden, um mich für ein oder zwei Nächte bei ihm einzuquartieren, doch daraus wurde am Ende nix. Die Straße hab ich gefunden, Haus 7 und 9 auch, die 8 war allerdings verschollen. Keiner von den Anwohnern konnte mir sagen, wo das Haus 8 ist, was schon sehr merkwürdig ist, dann verwies mich einer zu einer Baracke am Anfang der Straße, tatsächlich eine 8 am Haus, doch wohnen tat ein ganz anderer drin... Irgendwann hatte ich die Nase voll, denn auch Telefonieren war nicht möglich, selbst in einem Computerladen erbarmte man sich nicht, mal die Nummer von Viktor anzurufen, sondern schickte mich wieder raus zu einem nicht existierenden 20 m entfernten Telefon...
Ich drehte also wieder ab, der Schneefall hatte aufgehört, die Sonne schien, bei so einem Wetter bin ich eh lieber auf der Piste unterwegs und hoffte auf der Asphaltstrecke noch bis kurz vor Charp zu gelangen, um nun als Finale die Querung des Polar Ural in Angriff zu nehmen, eine Option, die ich mir schon in der Planungsphase offen hielt, sofern am Ende noch genügend Zeit dafür bleibt, und es blieb tatsächlich noch eine Woche, die ich gedachte unbedingt auszunutzen, wenn ich schon einmal hier war. Bei der Rücküberquerung des Ob's setzte jedoch wieder Schneefall ein, der Wind frischte auf und ehe ich Labytnangi erreicht hatte, tobte auf einmal ein schrecklicher Schneesturm. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, so dass ich am Ende in der Bahnhofshalle übernachtet habe, denn Zelt aufbauen wäre bei so einem zugigen Schneegestöber keine Freude gewesen.
In der beheizten Halle spürte ich wieder, wie sehr ich mich an die Kälte gewöhnt hatte, Fingerspitzen und Zehen waren in der warmen Umgebung wie aufgeblasen, laufen konnte ich fast nur humpelnd, wie nach einem langen Marsch mit aufgeriebenen Füßen. Die Nase hat den Temperatursprung auch nicht ganz verkraftet, pellte sie sich schon seit Azovy, fing sie nun auch noch an aufzuplatzen wie ein Salzsee in der Dürrezeit...
Da ich wie in St. Petersburg in einem Sitz übernachtete, der mir nur unbequem etwas Schlaf gönnte, bin ich gleich mit Anbruch des Tages los, denn der Wind war wieder auf Stärke 1 zurückgefallen und blies auf der Fahrt nach Charp mit Stärke 2 sogar in den Rücken, so dass ich trotz etlicher Fotohalte wegen der nahenden Bergkulisse schon mittags das kleine Städtchen am Rande des Urals erreichte. Das Kuriose: noch bevor ich in die Stadt gelangte, war ich schon zweimal eingeladen worden, "Glück" hatte der letztere, dem ich gleich hinter seinem Jeep herfahren sollte. So endete der Tag schon zu einer Zeit, zu der ich so manches Mal erst aufgebrochen war, denn obwohl der Mann keine Zeit hatte und mir nur seine Wohnung aufschloss, war klar: hier muss ich bleiben, ein wenig widerwillig, da der Tag doch gerade erst angefangen hatte, doch als wieder Schneefall einsetzte, war ich ganz froh, konnte ich doch seit Berezovo/Azovy mal wieder mich und ein paar meiner Sachen waschen.
Schwierig wurde es jedoch, als ich erfuhr, dass es tatsächlich kein Weiterkommen gibt, da der Weg, den ich vor drei Jahren zu Fuß nach Charp gekommen war, weder benutzt noch geräumt war und der erhoffte Zimnik auf dem gefrorenen Sob anscheinend nicht existierte (vielleicht auch nur dieses Jahr, weil so extrem viel Schnee gefallen ist). Ich wollte mich doch selbst vergewissern, eventuell noch andere Leute fragen, ehe ich mich dazu entscheide endgültig abzubrechen und mit Zug gen St. Petersburg zu fahren. Letzterer verkehrt jedoch nur alle drei Tage und bis zum nächsten hätte ich zwei Tage in Charp absitzen müssen, für mich Grund genug, noch etwas zu versuchen, auch wenn ich am Ende nur am Rande von Charp nochmal mein Zelt aufschlagen sollte, um den Blick auf die verschneiten Berge zu genießen. Das war meinem Gastgeber nur schwer begreiflich zu machen, bei ihm hatte ich doch ein beheiztes Quartier...
Irgendwann hat er jedoch nachgeben müssen und ließ mich gehen im Glauben, ich würde mir die Stadt ankucken, Fotos von den Bergen und vom Fluss Sob machen, eine Nacht irgendwo zelten und am nächsten Tag zurück nach Labytnangi fahren. Meine tatsächliche Absicht war aber die Suche nach einer Möglichkeit, den Polar Ural doch noch irgendwie zu queren und sei es entlang der Bahntrasse. Letztere war am Ende tatsächlich die einzig machbare Alternative zu den nicht vorhandenen Zimniks, auch wenn jetzt zwei oder drei Tage schieben angesagt ist, so wird doch jeder Schritt mit einem fantastischen Blick auf die Berge belohnt, nur die ständige Aufmerksamkeit bezüglich nahender Züge stresst ein wenig, vor allem in Kurven, wo man nicht weit vorausschauen kann... (28.3. 10.15 Uhr)

[24. Tag - 28. 3. 2008]  Scheiß Tauwetter... Dass es schon so warm werden würde, hätte ich ja überhaupt nicht für möglich gehalten, acht Grad plus am Nachmittag, das hat doch mit Winter überhaupt nichts mehr zu tun! Das Schlimmste dabei: der Schnee weicht auf, pappt alles ein, nässt und lässt mich mit dem bepackten Rad überall einsacken, wo ich zuvor noch gut drauf rollen konnte. Hinter Charp bin ich auf dem mit etwa 10 cm Schnee verfüllten Gleisbett wunderbar vorangekommen, konnte sogar stellenweise fahren, doch jetzt ist alles nur noch eine miese Schinderei, zumal der Schnee immer tiefer wird. Angesichts dieser Tatsache bereue ich es mittlerweile, nicht wie meinem Gastgeber vorgetragen gehandelt zu haben, dann könnte ich mich heute in den Zug setzen und endlich nach St. Petersburg fahren, doch nun kann ich mich noch drei weitere Tage bei diesem stürmischen Tauwetter durch die Gegend plagen. Letzte Nacht war ich ja noch total begeistert, weil ich vor grandioser Bergkulisse mit einem fantastischen Polarlicht "belohnt" wurde, doch ähnliches hätte ich auch am Rande von Charp haben können. Der einzige Trost wären die Bilder, sofern diese auch gelungen sind.
Bis Sob' sind es nun noch 10 km, ein ganzer Tagesmarsch unter den gegebenen Bedingungen, es sei denn, ich komme auf dem Gleis balancierend schneller voran. Geübt hab ich mich ja schon, von anfangs 1 km/h auf bald folgende 3-4 km/h. Der größte Ärger bleibt aber bestehen: der Schneematsch, durch den ich weiterhin stiefeln muss, ölig ist er von den imprägnierten Bohlen, hat mir schon Rad, Schuhe und Hose dermaßen eingesaut, dass ich mich schon richtig "freue", Rad und Gepäck für die Zugfahrt herzurichten, denn das schmierige Gelumpe lässt sich kein bisschen abputzen. Zwei Wochen bin ich durch eine saubere, ja sterile Umgebung geradelt und nun auf die letzten Tage noch so ein Dreck... (29.3. 9.30 Uhr)

Rückreise

[25. Tag - 29. 3. 2008]  So ein Glück muss man haben: früh noch gedacht, wär ich doch schon kurz vor Sob', dann könnt ich auf den Zug aufspringen, den ich sonst in Charp oder Labytnangi genommen hätte, und mittags gelangte ich doch tatsächlich in selbigen, obwohl ich noch mitten in der Pampa unterwegs war... Gerade mal 800 m bin ich gewatschelt, sah einen Bahnarbeiter an einem einsamen Häuschen stehen, als ob er auf den Zug wartet, der mich jeden Moment vom Gleis vertreiben würde, fragte ihn, ob es möglich sei, dass ein Dahergelaufener mit Rad und Gepäck ebenfalls zusteigen könnte und ehe ich die so selbstverständliche Reaktion als ein klares Ja deutete, hatte ich schon provisorisch mein Rad abgepackt, denn Rufe des nahenden Zuges waren bereits hörbar... 10 Minuten später war ich dann mit dem ganzen Krempel im Zug - hätt ich nie gedacht, dass das so einfach, so schnell und überhaupt geht, war es doch ein Minutenpoker sondergleichen.
Wie dem auch sei, durch diesen Glückstreffer hab ich mir vor allem ein weiteres zermürbendes Schneematschgestiefel erspart. Vermutlich wäre ich eh bloß bis Sob' gerollt, denn beim prüfenden Blick aus dem Zugfenster konnte ich keinerlei Anzeichen einer Verbindungspiste zu den folgenden Orten ausmachen, lediglich Spuren von Schneemobilen und Kettenfahrzeugen waren hin und wieder sichtbar, womit sich bestätigt, dass es tatsächlich keinerlei Fahrwege gibt, die man mit Rad hätte befahren können. Von Sob' aus wäre ich also auch nur auf dem Gleis weitergekommen, jedoch nie und nimmer bis Eletskij, so dass ich dort wohl auch zwei Tage hätte absitzen müssen...
Da stellt sich für mich die Frage, wie es Andrej Finochenko und seine Kumpels geschafft haben, 1996 den Polar Ural per Rad zu überqueren bzw. entlang der Bahntrasse noch bis nach Syktyvkar weiterzufahren?!?? Entweder gab es damals einen Zimnik oder die Kerle sind auch auf der Bahntrasse entlanggeschrubbt oder beides... (29.3. 23.40 Uhr)

[26./27. Tag - 30./31. 3. 2008]  Unerträglich ist die Hitze im Waggon, auf 29°C hat man ihn hochgeheizt, das war mir schon im Sommer zu warm, warum nur muss das sein? Im Gegensatz zur Hinfahrt, die recht erholsam und auch nicht ganz so warm war, hänge ich diesmal nur ächzend rum, die Nase trocken, die Zehen übel schmerzend, bin froh, wenn ich aus Schuhen und Socken raus bin, aber auch froh, in selbigen mal an die frische Luft zu humpeln, sofern dies ein längerer Halt erlaubt. Das Problem mit den aufgeblähten Zehen hat sich seit meinem Verweilen im Zug deutlich verschärft, in der Kälte fühlte sich alles noch normal an, doch jetzt weiß ich gar nicht, wie ich in St. Petersburg mit dem ganzen Gepäck hier rauskommen soll, denn Laufen ist zur Zeit echt ne Qual. Wahrscheinlich regenerieren sich Nervenenden oder sowas, Gefühl ist soweit vorhanden, als hätte jemand Pflaster über die Haut geklebt, also ähnlich wie an den Fingerspitzen, was ich schon von der Skandinavien-Wintertour her kenne und deshalb so einschätze, dass es irgendwann vorüber geht...
Der Frühling hat Einzug gehalten, in ganz Nordeuropa-Russland blauer Himmel, Sonnenschein und Temperaturen bis 10°C. Der Schnee taut, sackt überall zusammen, dass Trampelpfade plötzlich höher liegen, als die umgebende Schneefläche, interessant auch die "Geomorphologie" der Schneedecke nach dem scheinbar ersten Regen, abfließendes Wasser hat ein kleines Relief aus Furchen und Rillen hinterlassen. Die Pisten verwandeln sich derweil schon in Schlamm, sind teilweise überflutet oder tief zerfahren, da hört bei einer Radtour jeder Spaß auf... Ansonsten ist irgendwie alles nass, obwohl das Wetter trocken ist, der Bahnsteig, die Asphaltstraßen, alles was zuvor mit Schnee bedeckt war. (31.3. 15.40 Uhr)

Richard Löwenherz      

Dieser Erfahrungsbericht wurde unter den jeweils vorherrschenden Bedingungen aufgeschrieben
(auch bei -30°C unter freiem Himmel!!!)


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© 2008 by Richard Löwenherz